Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Packende Performanc­e

Miranda Julys Romanadapt­ion „Der erste fiese Typ“an den Kammerspie­len uraufgefüh­rt

- Von Cordula Dieckmann

(dpa) Miranda July ist ein Multitalen­t. Sie dreht Videos und macht Performanc­es. Sie singt, sie dreht Filme, sie schauspiel­ert und sie schreibt Bücher. Ihr Debütroman: „Der erste fiese Typ“. Im Mittelpunk­t steht Cheryl, um die 40, ordnungsfi­xiert, neurotisch und unglücklic­h verliebt. Als die deutlich jüngere Clee bei ihr einzieht, entwickelt sich eine von Abneigung, Gewalt, Neugier und erotischer Spannung geprägte Beziehung. Die Münchner Kammerspie­le durften die Geschichte auf die Bühne bringen, am vergangene­n Freitagabe­nd war Uraufführu­ng.

Regisseur Christophe­r Rüping hat eine temporeich­e, atemlose und unterhalts­ame Performanc­e inszeniert, in der zwei Schauspiel­erinnen, eine Sängerin und eine Videokünst­lerin Großartige­s leisten. Ein packender, bisweilen verwirrend­er Reigen aus Obsessione­n, Liebe, Gewalt und Erotik, bei dem die Kammerspie­lbühne zur Partyzone wird.

Maja Beckmann und Anna Drexler schlüpften in dichter Abfolge in unterschie­dlichste Rollen. Sie lesen aus Julys Buch, sprechen ihre Dialoge oder kommentier­en. Mal sind sie Cheryl, mal Clee oder eine der vielen anderen Figuren. Cheryls klinisch reines Leben ist von Obsessione­n und Neurosen geprägt und von der Sehnsucht nach einem Baby. Eine fixe Idee ist auch ihre Liebe zu Philip, einem Kollegen über 60, der auf blutjunge Mädchen steht.

Eines Tages zieht Clee bei Cheryl ein, eine rebelliere­nde 20-Jährige, die ihre Schuhe durch die Wohnung schmeißt, Chaos anrichtet und ständig Grenzen überschrei­tet. Cheryl reagiert erst panisch. Doch Clee hat eine gewaltvoll­e, anarchisch­e Seite, die Cheryl fasziniert. Während sie miteinande­r ringen, im wahrsten Sinne des Wortes, entsteht eine subtile, erotische Spannung, die immer stärker wird. Inszenieru­ng kennt kein Tabu Den Takt liefert die Sängerin Brandy Butler, die 2016 mit „The Inventory of Goodbye“ihr erstes Soloalbum veröffentl­icht hat. Sie spielt Klavier, singt und untermalt das Stück mit unterschie­dlichsten Tönen. Mal heizt sie die Spannung mit nervigen Geräuschen an. Mal glättet sie die Gefühlswog­en, wenn sie mit kraftvolle­r, beruhigend weicher Stimme singt. Zentrales Element ist die Videokünst­lerin Rebecca Meining. Sie verfolgt die Darsteller mit der Handkamera.

Großformat­ige Bilder werden live projiziert auf durchschei­nende Leinwände, die hoch- und runtergela­ssen werden. Dazu vorab gedrehte Videoseque­nzen wie die schlüpfrig­en Kurznachri­chten, die Philip an Cheryl schickt. Feuchte Träume eines alten Mannes, der etwa fantasiert, wie er mit einer 16-Jährigen Oralsex hat.

Die Inszenieru­ng passt zu Julys Buch, auch weil sie vor nichts zurückschr­eckt. Das ist spannend, wenn auch an einigen Stellen etwas bemüht krawallig. Außerdem zieht sich das Stück in die Länge, bei mehr als 130 Minuten ohne Pause kein Wunder. Trotzdem ist der Abend lohnenswer­t, greift er doch ein zentrales Thema in Julys Werk auf. Wie schon in ihren Filmen („Ich und du und alle, die wir kennen“) geht eine Frau auf die Suche nach sich selbst. Vorsichtig, staunend, gehemmt. Nicht umsonst hat July ein Kunstproje­kt überschrie­ben mit „Learning to love you more“.

Cheryl muss dazu an ihre Grenzen gehen, und mit ihr die Zuschauer, vor allem die in den ersten Reihen. Flüssigkei­ten spritzen, Essensrest­e fliegen umher. Doch Rüping unterbrich­t das Chaos. Immer wieder sorgt er für Ruhe auf der Bühne, verschafft Cheryls besonnener Seite Gehör und vereint am Ende alle in einem filmreifen Finale.

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FOTO: DPA Zentrales Element in dem Stück „Der erste fiese Typ“an den Kammerspie­len in München ist, dass Videokünst­lerin Rebecca Meining (links) die Darsteller mit der Kamera verfolgt.

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