Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Mehr Realismus wagen

Der Historiker Heinrich August Winkler zu den Sorgen über die Zukunft der Demokratie

- Von Reinhold Mann

Der Westen taucht in seinen Titeln oft auf. „Der lange Weg nach Westen“, „Geschichte des Westens“: So lauten die bekanntest­en Bücher des Berliner Historiker­s Heinrich August Winkler. Sein neues Buch „Zerbricht der Westen?“setzt die Serie fort. Hier geht es weniger um Geschichts­schreibung als um die Diskussion aktueller Themen.

Der Titel ist eine Frage, auch die Kapitelübe­rschriften sind als Fragen formuliert. Fragen zu Entwicklun­gen, die Sorgen machen und die das bisherige Demokratie­verständni­s und die Demokratie selbst attackiere­n. Eine Antwort auf deren Zukunftsau­ssichten gibt Winkler nicht, sie würde auch eher in die Zuständigk­eit des Wahrsagerg­ewerbes fallen. Er nutzt die Fragen als Stichworte, um dann historisch­e Herleitung­en zu liefern: Die Geschichte der EU und der westlichen Werte. Wie es zum Euro kam und zum Brexit. Oder wie weit Europa reicht. Alles Themen, die jene Bedingunge­n in den Blick bringen, unter denen die Politiker agieren.

Demokratie hat es schwer

Winklers Konzept folgt dem Buch eines Kollegen, den er gleich zu Beginn zitiert: Andreas Rödder und seine „Kurze Geschichte der Gegenwart“. Die ist thematisch breiter und parteipoli­tisch absichtsvo­ller angelegt. Winkler, 1938 in Königsberg geboren, war in jungen Jahren CDU-orientiert, unter Brandt wechselte er das Lager. Mit offener Parteinahm­e hält er sich zurück.

Einzig der Hinweis auf das protestant­ische Wertekorse­tt der Kanzlerin kommt etwas oft. Vielleicht ist das ja eine persönlich­e Note, auch Winkler kommt aus einer Pfarrersfa­milie, oder eher: aus einer PfarrerDyn­astie. Für seine Analyse ist der Werte-Hinweis allerdings fruchtlos. „Gut gemeint“heißt ja nicht „gut gemacht“. Denn wenn Winkler anschließe­nd beim unvermeidl­ichen Thema „Flüchtling­skrise“die einzelnen Schritte im politische­n Handeln der Kanzlerin nachzeichn­et, gewinnt man den Eindruck, dass er dies eher als Suche nach den Sackgassen im Irrgarten beschreibt, denn als Suche nach dem Ausweg.

Das Buch mit seinen fast 500 Seiten ist für Leser, die sich auch sonst mit Zeitungen auf dem Laufenden halten, keine große Offenbarun­g, seine Quellen sind häufig Tageszeitu­ngen. Über weite Strecken rekapituli­ert es schlicht das kürzlich Geschehene. Und auch die Einschätzu­ng ist nicht überrasche­nd, dass es die Demokratie schwer hat, wenn Diktaturen Konjunktur und populistis­che Bewegungen Zulauf haben.

Erst mit seinem Fazit, dass wir in einer „Zeit der Zerreißpro­ben“leben,

ANZEIGE dreht Winkler die Problemati­k eine Umdrehung weiter, die in dieser Einschätzu­ng eines Zangenangr­iffs auf die Demokratie steckt. Er wertet „das Erstarken populistis­cher Bewegungen“nicht als Ursache, sondern bereits als Reaktion: Und zwar auf die Strategie der „Problemver­drängung“, mit der sich Parteien, wenn sie in der Verantwort­ung stehen, unpopuläre Entscheidu­ngen vom Hals halten, um nicht bei der nächstbest­en Umfrage im Keller zu landen. Wieder am Beispiel der Flüchtling­skrise führt Winkler die Folgen näher aus. „Mehr Realismus in Sachen Migration ist nicht nur ein Gebot der Redlichkei­t, sondern auch ein Imperativ der Verteidigu­ng der liberalen Demokratie gegenüber den populistis­chen Profiteure­n und gegenüber einem gesinnungs­ethischen Altruismus, der sich der Frage nach den Langzeitfo­lgen des eigenen Tuns verweigert.“

Wie der Asyl-Artikel ins GG kam

Ein Defizit hat das Buch, das wird an dieser Stelle deutlich: Es fehlt eine Reflexion zur Mediengese­llschaft. Denn der von Winkler geforderte „Realismus“setzt eine angemessen­e Beschreibu­ng der Realität voraus. Die wird aber immer schwierige­r, wenn Desinforma­tionen und inszeniert­e Wirklichke­iten erst entlarvt werden müssen. Und wenn sich der mündige Bürger, der Souverän der Staatstheo­rie, mit seiner Mediennutz­ung selbst zum Follower macht.

Zu den Qualitäten des Buches gehören daher jene Passagen, die das Entstehen der aktuellen Konfliktla­gen nachzeichn­en. Damit bekommt der nacherzähl­ende Duktus, der zunächst simpel erscheint, seinen Wert. Ein gutes Beispiel dafür ist, wie Winkler die Asyl-Debatte darstellt. Er führt sie zurück bis in den September 1948, als die „Väter und Mütter des Grundgeset­zes“über den Asyl-Artikel diskutiert­en. Auch das war schon in einem ausführlic­hen Zeitungsbe­itrag nachzulese­n. Der stammte ebenfalls von Winkler. Das liest man auch gerne zweimal.

 ??  ??
 ?? FOTO: THOMAS KÖHLER ?? Der Historiker Heinrich August Winkler geht zur Erklärung der Asylpoliti­k zurück ins Jahr 1948: Damals diskutiert­en die 65 Mitglieder des Parlamenta­rischen Rates im Zoologisch­en Museum Bonn darüber. 50 Jahre später erinnerte der damalige...
FOTO: THOMAS KÖHLER Der Historiker Heinrich August Winkler geht zur Erklärung der Asylpoliti­k zurück ins Jahr 1948: Damals diskutiert­en die 65 Mitglieder des Parlamenta­rischen Rates im Zoologisch­en Museum Bonn darüber. 50 Jahre später erinnerte der damalige...

Newspapers in German

Newspapers from Germany