Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Angst und Frust führen viele Russlanddeutsche zur AfD
Bis zu 25 Prozent für AfD in Wiblingen - Aussiedler fürchten sich vor Flüchtlingen und Altersarmut
ULM - 19,5 Prozent der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl für die AfD in Ulm-Wiblingen, 15 Prozent in Ulm-Böfingen: Zwar hat die Partei ihre Erfolge von der Landtagswahl 2016 nicht wiederholen können, als in einzelnen Wiblinger Wahllokalen über 29 Prozent der Wähler sich für die AfD entschieden. Aber 25 Prozent der Stimmen wie beispielsweise am Sonntag im Schulzentrum Wiblingen finden auch landesweit Beachtung. Und hinterlassen Fragen.
Montag. Der Nachmittag nach dem Wahlsonntag in Wiblingen. Rentner gehen über den zentral gelegenen Tannenplatz, Mütter sind mit ihren Kindern im Supermarkt. Teenager treffen sich. Ein gepflegter Stadtteil im Ulmer Süden mit Hochhäusern, Mehrfamilien- und Einfamilienhäusern, entstanden in den 60er- und 70er-Jahren. Hier leben fast 16 000 Menschen. Der Migrantenanteil ist hoch, besonders Russlanddeutsche haben hier eine neue Heimat gefunden. Es gibt einen Supermarkt mit russischen Lebensmitteln. Für etwa 60 Flüchtlinge sind Häuser für die Anschlussunterbringung errichtet worden, die sich baulich in den Stadtteil integrieren. Die Kriminalitätsrate zeigt keine Auffälligkeit. Hier also hat jeder vierte Wähler für die AfD gestimmt?
„Ja, habe ich.“Seinen Namen will keiner der Gesprächspartner – es sind Russlanddeutsche – in der Zeitung lesen, die Wahl sei ja auch geheim. Auf die Frage, warum die AfD so stark geworden ist, aber gibt es prompt und schnell drei Antworten, die sich stereotyp wiederholen: „Unsere Rentenansprüche sind zu niedrig und unsicher.“„Wir haben Angst, unterzugehen.“„Die Flüchtlinge bekommen mehr als wir.“
Bundesweit kamen seit dem Zweiten Weltkrieg fast 2,4 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler aus Russland sowie den alten Sowjetrepubliken nach Deutschland. Sie gelten als fleißig, ordnungsliebend und unpolitisch. Wenn sie wählen, eher konservativ. „Es ist eine Gruppe, die sich gut integriert hat“, sagt der Berliner Publizist Sergey Lagodinsky.
Doch „die Russen“wurden nicht immer freundlich aufgenommen wurden, sagt Jürgen Arnhold, Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. So wurden ihre Berufsqualifikationen teils nicht anerkannt: Ärzte mussten als Pfleger arbeiten, Lehrer als Betreuer. Da sinkt das Selbstwertgefühl. Es sind auch diese Gründe, warum vor allem spätere Zuzügler mit geringen Deutschkenntnissen vorzugsweise russisches Fernsehen gucken und warum sie vornehmlich Russisch sprechen wollen.
Russlanddeutsche wählten früher stärker CDU – aus Dankbarkeit gegenüber Kanzler Helmut Kohl (CDU), der sich für eine leichtere Einreise der Deutschen aus Russland in die Bundesrepublik eingesetzt hatte. In Deutschland sind rund 1,5 Millionen Russlanddeutsche wahlberechtigt, in Baden-Württemberg rund 200 000. In Ulm leben etwa 6500 Russlanddeutsche, wie Elis Schmeer, Leiterin der Koordinierungsstelle „Internationale Stadt“in Ulm zu berichten weiß.
Vorwürfe an die CDU: Untätigkeit und wenig Einsatz
„Dass wir die CDU wählen, ist vorbei“, sagt einer der Rentner in Wiblingen. Er wirft der CDU vor, sie habe jahrelang von den Wählerstimmen der Russlanddeutschen profitiert, sich aber nicht für ihre Interessen eingesetzt.
Zustimmung kommt von der Wissenschaftlerin Sabrina Mayer von der Universität Duisburg-Essen. Mayer hat das Wahlverhalten von Migranten untersucht. „Die Bindung von Russlanddeutschen an die CDU geht stark zurück“, sagt sie. Die Dankbarkeit gegenüber der Partei spiele bei der zweiten Generation der Russlanddeutschen, die in Deutschland geboren wurde, keine große Rolle mehr. „Das ist nicht mehr unsere Partei“, sagen viele Russlanddeutsche – vor allem seit der Flüchtlingskrise 2015.
Bundesweit offensichtlich wurde dies im Frühjahr 2016, als diese Bevölkerungsgruppe auf Anti-FlüchtlingsDemos auffiel. Der Auslöser war der „Fall Lisa“in Berlin. Es hieß, das russisch-deutsche Mädchen sei von drei südländisch aussehenden Männern entführt und vergewaltigt worden. Das erwies sich als Falschmeldung – sie zog dennoch weite Kreise, vor allem in den sozialen Medien.
Auch in Wiblingen spielt die Angst vor den Flüchtlingen eine große Rolle, weiß Stadträtin Helga Malischewski. Die stellvertretende Vorsitzende der Freien Wähler im Ulmer Gemeinderat wohnt in Wiblingen, in Sichtweite des oben genannten Tannenplatzes: „Das Wahlergebnis und die hohe Zustimmung für die AfD haben mich nicht überrascht“, sagt die Kommunalpolitikerin. Trotz aller Bemühungen sei die Angst besonders der Russlanddeutschen, „zu kurz zu kommen, überall zu spüren.“Zwei Beispiele: Die städtische Wohnungsbaugesellschaft UWS habe jeweils zweistellige Millionenbeträge in die Sanierung der Hochhäuser an der Reutlinger und an der Biberacher Straße investiert. Malischewski: „Und trotzdem ist der Neid auf die Flüchtlinge groß.“
Angst vor Fremden weit verbreitet
Der Ulmer Oberbürgermeister Gunter Czisch hat unlängst in einer eigenen Bürgersprechstunde für Russlanddeutsche den Kontakt gesucht. Elis Schmeer von der Koordinierungsstelle „Internationale Stadt“weiß zu berichten, dass die Russlanddeutschen der ersten Generation „nach 10 oder 20 Jahren, in denen sie viel gearbeitet haben, nun angekommen sind.“Es gebe aber immer noch viele Ängste: „Besonders vor Fremden.“Und erstaunlich offen hätten die Russlanddeutschen ihre Anliegen an Czisch herangetragen: „Rentenansprüche, Anrechnung der Jahre in Russland für die Rente und Ressentiments gegenüber Flüchtlingen“, berichtet Schmeer.
Der eigenen Familie und christlichen Werten komme eine sehr große Bedeutung zu, sagt auch Ernst Strohmaier. Strohmaier ist selbst erst 1987 in die DDR gekommen. Er ist Vize-Bundeschef der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Strohmaier, CDUMitglied, ist Vorsitzender des neuen christdemokratischen Netzwerks Spätaussiedler und Heimkehrer. Er spricht von einem „größeren Integrationsbedarf “, den viele Deutsche aus Russland selbst noch hätten. „In der ehemaligen Sowjetunion lebten viele Deutsche zurückgezogen.“Dies habe sich dann hier oft fortgesetzt. Und Altersarmut unter Deutschen aus Russland sei ein großes Problem. „Es ist erschreckend, wie viele in ihren alten Jahren zur Tafel gehen müssen, obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben.“
Jetzt wenden sich viele Russlanddeutsche enttäuscht der AfD zu, obwohl die Partei in Stadtteilen wie Wiblingen oder Böfingen gar keine besonderen Aktionen vor der Wahl gestartet und auch nichts versprochen hat. Nur dies: „Wir haben zweisprachige Flyer verteilt: in deutscher und in russischer Sprache“, erklärt AfD-Kreisvorsitzender Eugen Ciresa, „das war’s.“
Mit Material unserer Agenturen.