Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Kevin blieb zu Hause
Prozessauftakt nach Schlägerei im Rotlichtviertel ohne Fußballer Großkreutz – Weltmeister war nicht nur Opfer, er hatte auch provoziert
STUTTGART - Kevin Großkreutz sah alles andere als gesund aus nach seinem nächtlichen Rosenmontagsausflug Ende Februar 2017. Ein riesiges Hämatom prangte am Hinterkopf, sein Gesicht war geschwollen, und überall klebte da getrocknetes Blut: am Ohr, am Hals, an den Haaren. Großkreutz trug einen Turban, er nahm die Bilder damals selbst in der Notaufnahme auf, und der Aufschrei der Medien war groß. „Weltmeister von Jugendlichen krankenhausreif geschlagen“, meldeten sie zunächst. Bloß: Wie war es wirklich, was hat sich tatsächlich zugetragen rund um den Stuttgarter Wilhelmsplatz, dort, wo das Nachtleben der Landeshauptstadt tobt und wo manches Lichtlein etwas rötlicher funkelt als für eine angemessene Sicht nötig?
Bemerkenswerte Naivität
Am Dienstagmorgen in der Hauffstraße 5 in der Nähe des Schlossgartens, Sitz des Amtsgerichts, bekam man eine Ahnung davon – nur dass der Protagonist dieser dornigen Rosenmontagsnacht fehlte. Großkreutz, 29, bis dato in Diensten des damaligen Zweitligisten VfB Stuttgart, heute beim SV Darmstadt tätig, hatte ein Attest vorgelegt, er sei erkrankt. Die Medien waren allerdings nicht umsonst gekommen. Sie erhielten auch mittels der Zeugen einen sehr anschaulichen Einblick davon, wie heutzutage und vermutlich schon immer ein Disput zwischen jungen Menschen ausufert, wenn nur genug Alkohol im Spiel ist. Die Besonderheit der Rosenmontagsschlägerei war allerdings, dass der Protagonist ein Fußball-Weltmeister ist und zehn Jahre jüngere Halbwüchse im Schlepptau hatte. Und dass dieser Weltmeister zwar ein Opfer war, allerdings eines, das sich seine Grube in bemerkenswerter Naivität und Gründlichkeit selbst gegraben hatte.
Einschlägig vorbestraft
Eines war schnell klar vor Gericht: wer die beiden – wegen Körperverletzung einschlägig vorbestraften und bereits in der Nacht gefassten – Täter waren, die Großkreutz so übel zugerichtet hatten: Alem S. (18) aus Geislingen hatte Großkreutz mit der Faust gegen die Brust geschlagen, Ali E. (17) aus Esslingen dem am Boden liegenden Ex-Nationalspieler danach einen Tritt ins Gesicht verpasst – das räumten die beiden ein.
Großkreutz allerdings hätte das Unglück vermeiden können – wäre er gar nicht auf die Idee gekommen, „auf d’Gass zom ganga“, wie man im Schwäbischen so sagt. Nach Anhörung von acht Zeugen beider Gruppen stellte sich etwa folgendes Bild der Nacht dar: Großkreutz, der einen Freund aus Hagen bei sich hatte, wollte feiern und suchte noch mehr Gesellschaft, also schickte der ExNationalspieler drei 16- und 17-jährigen A- und B-Junioren des VfB, die auf einem Fasnetsumzug in Böblingen weilten, eine SMS und lud sie ein, sich zu treffen. „Klar wollten wir mitfeiern“, sagte einer der Nachwuchskicker. Erst ging es in den Perkins Park, eine stadtbekannte Disco, dann zu den Nachtlokalen Boa und Tahiti, wo die 16-Jährigen aber keinen Einlass bekamen. Im Gegensatz zu Großkreutz. „Er wollte ins Rotlichtmilieu. Und er hatte seinen Spaß da“, sagte einer der Jungs.
Aus Spaß wurde blutiger ernst. Nachts um zwei Uhr nämlich stieß die doch einigermaßen betrunkene Großkreutz-Gruppe auf fünf teils ebenso angeheiterte Passanten, von denen einer einem VfB-Junior beim Vorbeigehen auf den Fuß stand. Versehentlich offenbar, vielleicht eine Folge fehlender Koordination, doch das Geschrei war groß. Nur kurz allerdings, denn die Passanten entschuldigten sich. „Das war keine Absicht, wir wollten keinen Stress“, sagte ein Zeuge, „auch weil Ali auf Bewährung draußen war.“Großkreutz aber hatte die befriedete Lage offenbar nicht mitbekommen, er stieß von hinten dazu und bewegte sich aggressiv auf die scheinbaren Rivalen zu. „Dann ist es eskaliert“, sagte ein VfB-Jugendlicher. „Kevin ist sehr laut, wenn er trinkt.“
Er war nicht aufzuhalten
Was Großkreutz exakt sagte, darüber gibt es mehrere Versionen, „Was wollt ihr? Verpisst euch, ihr Hurensöhne, oder ihr landet auf dem Boden“, berichtete einer der Rivalen. In jedem Fall sei er zornig und aggressiv gewesen, meinten die VfB-Junioren, „er wollte uns eben beschützen“. Nur hatten sie den Schutz gar nicht nötig. Einer der gegnerischen Gruppe stellte sich Großkreutz daraufhin in den Weg, wollte schlichten, respektive ihn aufhalten – offenbar mit einem Schubser –, Großkreutz aber ließ sich nicht aufhalten. Er schubste angeblich zurück und schlug, zumindest laut Aussage eines Zeugen, mit der Faust durch die Luft. Womöglich schrie Großkreutz auch „Verpiss dich“und gab dem Schlichter eine Backpfeife – daran glaubte sich ein anderer Ex-VfB-Junior zu erinnern.
Erstaunlicherweise schienen sich nicht alle der Jugendlichen so gut an die Vorgänge erinnern zu können, erstaunlich, was Alkohol und ein wenig Jugendbande bewirken kann. Wie auch immer die Großkreutz-Provokation aussah: Alem S., 0,7 Promille, wollte sich so viel Widerstand nicht bieten lassen „und meine Freunde schützen“– und schlug zu, treffsicherer als der Fußballer zuvor. Und Ali E., sein Kumpel, trat zu. Nicht aus Versehen, aus Zorn, Wut, Hass. Sie hätten nicht gewusst, dass das ein Fußballer ist, sagten die beiden, natürlich bereuten sie die Tat. „Ich schwöre, inschallah, dass meine Mutter nie wieder in diesen Besucherraum kommen muss“, schrieb einer im Gefängnis. Ob Gott seine Gebete erhört?
Großkreutz, zwei Monate zuvor Vater eines Mädchens geworden, hatte Glück im Unglück. Er schlug mit dem Kopf unglücklich auf einem Bordstein auf, aber er hätte auch sterben können. Er trug keine bleibenden Schäden davon, außer seinen vorübergehenden Arbeitsplatzverlust. Der VfB hatte damals zügig erklärt, Großkreutz sei seiner Vorbildfunktion nicht nachgekommen. Freiwillig, reumütig und unter echten Tränen trat der Liebling der Fans danach zurück, selbst eine Online-Petition, die 50 000 Anhänger unterzeichneten, konnte ihn nicht retten.
Es war nicht sein erster Skandal gewesen. Einmal hatte Großkreutz des Nachts einen Döner geworfen, dabei aber den Rivalen nicht getroffen, einmal, nach der Pokalniederlage gegen Bayern mit seiner großen Liebe Borussia Dortmund, ins Eck einer Hotel-Aula gepinkelt. Dass er Jugendliche seines Vereins zum Trinken und ins Puff einlädt, hatte wohl auch für ihn selbst eine neue Dimension.
Kommt er doch noch?
Richterin Muriel Leonhard würde Kevin Großkreutz gerne noch persönlich hören, ehe sie ihr Urteil spricht. Sie lud ihn für nächsten Mittwoch, 9 Uhr, erneut vor. Ein zweites Mal dürfte Großkreutz kaum absagen können. Ali E.s Verteidiger bat sie allerdings, es sich noch mal zu überlegen. Aus beruflichen, aber auch menschlichen Motiven. „Ich glaube nicht, dass man ihm damit einen Gefallen tut.“