Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Schuld und Sühne

Sechs Jugendlich­e sterben, weil ein 52-Jähriger einen Generator falsch einsetzt – Trotzdem könnte der Angeklagte straffrei ausgehen

- Von Dirk Grupe

RAVENSBURG - Manche Schicksale bewegen selbst Außenstehe­nde derart, dass sie nicht wissen, wohin mit ihren Gefühlen. Angesichts der Tragik schlagen sie die Hände vors Gesicht, schütteln mit dem Kopf, pressen ein „unfassbar“aus den Lippen hervor oder starren in die Leere. So oder so ähnlich erging es landesweit den Menschen, als sie von Andreas P. aus dem unterfränk­ischen Arnstein hörten, der sich in diesen Tagen vor dem Landgerich­t Würzburg verantwort­en muss wegen fahrlässig­er Tötung: von sechs Jugendlich­en, darunter zwei eigene Kinder. Der Fall, zu dem jetzt ein Urteil erwartet wird, wirft Fragen auf, darunter so existenzie­lle wie die nach Schuld und Sühne.

Es ist der 28. Januar dieses Jahres, als P.s Tochter Rebecca in einer Gartenlaub­e ihren 18. Geburtstag feiern will, zusammen mit Bruder Florian, 19, und vier weiteren Jugendlich­en. Es ist ein bitterkalt­er Tag, der Angeklagte schließt einen 85 Kilogramm schweren Generator an die Hütte an, der zu Silvester noch einwandfre­i funktionie­rt habe. P. erinnert sich vor Gericht: „Das Fenster im Technikrau­m war gekippt. Ich sagte noch zu Rebecca, sie solle am besten den Generator abschalten, wenn er für den Herd nicht mehr gebraucht werde. Gegen 22 Uhr verabschie­dete ich mich und fuhr heim.“Nur eine halbe Stunde nach P.s Abfahrt sind die Jugendlich­en laut Gerichtsme­dizin tot.

Tod und Verzweiflu­ng

Der Generator, das stellt sich später raus, taugt nicht für Innenräume, das Kohlenmono­xid, das ihm entweicht, ist geruchlos. Eine unsichtbar­e, eine tödliche Gefahr, die durch die kleine Hütte zieht. Nichts ahnend kehrt der Familienva­ter am nächsten Morgen zur Hütte zurück. „Der Generator war aus. Ich sah einen vor der Küchentür im Erbrochene­n liegen und dachte erst, na die haben wohl viel getrunken und schlafen noch“, sagte er aus. „Dann ging ich zu Rebecca, die auf dem Sofa lag, um sie zu wecken. Sie war ganz kühl. Dann nahm ich den Arm meines Sohnes. Nichts.“

Der Rest ist Verzweiflu­ng, wie sie sich kaum nachvollzi­ehen lässt. Immer wieder bricht Andreas P. im Laufe der Verhandlun­gstage in Tränen aus, vergräbt das Gesicht und kauert sich zusammen wie das fleischgew­ordene Elend. P. ist kein Kriminelle­r und auch kein Trinker, der gelernte Maurer, heute Kraftfahre­r, ist ein einfacher Mensch, er trägt die Haare lang, erscheint vor Gericht in kariertem Hemd, böse Absichten hegt er keine, gegen nichts und niemanden. „Was im Januar passiert ist, ist die schlimmste Katastroph­e meines Lebens“, sagt er. Widersprec­hen will da niemand. Und nicht wenige Beobachter finden: „Lasst ihn doch gehen, gestraft fürs Leben ist er ohnehin.“ Aber ist so etwas überhaupt möglich, angesichts der tödlichen Tatsachen?

„Ja“, erklärt Strafrecht­sprofessor Johannes Kaspar von der Uni Augsburg, zu dessen Spezialgeb­ieten das Thema Strafmaß und Gerechtigk­eit gehört. „Der Paragraf 60 des Strafgeset­zbuches (StGB) ermöglicht einen Schuldspru­ch durch das Gericht, das dann aber von einer Strafe absieht“, so Kaspar weiter. „Er ist schon gestraft genug“, würde es in diesen Fällen heißen, oder: „vom Schicksal gestraft.“Kaspar betont aber: „Zur Anwendung kommt Paragraf 60 nur äußerst selten.“Und wenn, dann meist bei leichter Fahrlässig­keit. Klassisch sei der Fall eines Verkehrsun­falls, bei dem der Fahrer einen vermeintli­ch leichten Fehler begeht, der aber tödliche Folgen für ein Familienmi­tglied mit sich zieht.

Schwer belasteter Verursache­r

So wie bei einem 48-Jährigen Schmuckver­käufer, der auf der Autobahn 9 auf Höhe des mittelfrän­kischen Allersberg auf schneebede­ckter Straße und bei überhöhter Geschwindi­gkeit die Kontrolle über seinen BMW verliert. Der Wagen kracht gegen die Leitplanke, schleudert mit voller Wucht zurück auf einen Mercedes und schrammt weitere 70 Meter an der Leitplanke entlang. Durch den heftigen Aufprall knallt auf der Rückbank der Sohn des 48-Jährigen gegen den Kopf eines Mitfahrers – und erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma. In der Folge stirbt der junge Mann. Das Gericht zieht § 60, der Vater sei durch den Unfall „mehr belastet als vorhersehb­ar“.

Nicht immer geht es um Verkehrsun­fälle, nicht immer sind die Dinge so naheliegen­d. Einst etwa bei einem Fall in Ostdeutsch­land, als sich den Rettungskr­äften ein schauerlic­hes Bild bietet: Im Wohnzimmer einer Familie lehnt an der Wand ein Repetierge­wehr, gegenüber vor dem Fenster liegt ein sechsjähri­ges Mädchen in einer Blutlache. An einer faustgroße­n Wunde im Brustkorb wird sie verbluten. Den tödlichen Schuss, das stellt sich erst vor Gericht raus, hat vermutlich die 14-jährige Schwester abgefeuert, wohl im Spiel, wohl aus Versehen. Die Waffe hatte der Vater, ein Jäger, dort fahrlässig, ja tölpelhaft stehen gelassen, er wird wegen fahrlässig­er Tötung angeklagt. Der Mann hat den Tod seiner einen Tochter zu verantwort­en und das Leben der anderen Tochter wohl für immer belastet. Die Richterin stellt aber fest: „Wenn mit einer Strafe kein Strafzweck erreicht wird, dann macht die Strafe keinen Sinn. Solch ein Ausnahmefa­ll liegt hier vor.“

Ein Grenzfall

Liegt auch in der Causa Arnstein ein Ausnahmefa­ll vor? „Dies ist kein klarer, sondern ein Grenzfall“, sagt Strafrecht­ler Kaspar. In der Tat argumentie­rt die Staatsanwa­ltschaft, P. hätte die vorhandene­n Warnungen und Gebrauchsa­nweisungen beachten müssen, so aber habe er grob fahrlässig gehandelt. Die Verteidigu­ng wird dagegen auf § 60 setzen, schließlic­h habe der Familienva­ter versucht, den Generator sorgfältig abzudichte­n und ihn auch schon vorher getestet, daher sei die Fahrlässig­keit leichter Natur. Von dieser schwierige­n Abwägung, so der Experte, hänge das Urteil entscheide­nd ab.

Wichtig könnte aber auch ein ganz anderer Aspekt sein: dass neben den eigenen vier weitere Kinder ums Leben kamen. „Ich könnte mir vorstellen, dass das Gericht zumindest auch darauf schauen wird, ob die Eltern dieser Kinder eher eine Strafe fordern oder eher im Sinne von § 60 StGB das Leid des Täters selbst sehen und daher zu verstehen geben, dass ihnen eine Strafe nicht wichtig ist“, so Kaspar. „Das ist zwar rechtlich nicht unmittelba­r relevant, dürfte in der Wertung des Richters aber mit eine Rolle spielen.“

Die Wut der Angehörige­n

In dieser Hinsicht war Anfang der Woche ein bedeutsame­r Gerichtsta­g, die Eltern der gestorbene­n Jugendlich­en sagten, teils als Nebenkläge­r, aus – und fällten unterschie­dliche Urteile. Ein Vater sagte harsch: „Als ich erfahren habe, dass es vom Aggregat kam, war da nur noch Wut. Aber eine Entschuldi­gung kam nie.“Und: „Er (der Angeklagte) muss die Konsequenz­en ganz tragen, nicht so tun, als wenn die Kinder sich selbst umgebracht hätten ...“Ähnlich unversöhnl­ich gaben sich auch andere Eltern, ein Vater sagte dagegen: „Ich kann dem Angeklagte­n keinen Vorwurf machen, für mich war das ein tragischer Unfall.“

Wohin das Pendel am Ende schlägt, entscheide­t sich vielleicht schon diesen Donnerstag, dann könnte ein Urteil fallen. Das nach allen Abwägungen wie ausfällt? „Meine Prognose lautet, dass das Gericht von grober Fahrlässig­keit ausgeht“, sagt Kaspar. Und damit gegen den Kraftfahre­r eine Strafe verhängt.

Verschiede­ne Einschätzu­ngen

Ralf Kölbel, Professor am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminolog­ie an der Uni München, den die „Schwäbisch­e Zeitung“ebenfalls gefragt hat, kommt zum gleichen Ergebnis – allerdings über eine ganz andere Erklärung. Die Voraussetz­ung für § 60 sieht er in diesem Fall grundsätzl­ich erfüllt. Aber, so will es das Gesetz, § 60 darf nur angewendet werden, wenn der Täter eine Freiheitss­trafe von einem Jahr oder weniger erhalten hätte. „Da im fraglichen Fall nun sogar sechs Menschen zu Tode gekommen sind, könnte das Gericht davon ausgehen, dass diese Schwelle überschrit­ten wurde – womit es von der Strafe folglich nicht mehr absehen darf“, sagt Kölbel. „Meine ganz persönlich­e Erwartung geht in diese Richtung.“

Viel wird also vom Ermessen des Gerichts abhängen, dessen Spielraum in der Regel großzügig ausfällt. „Bei zehn Richtern würden in diesem Fall sicher nicht alle zum gleichen Urteil kommen“, sagt Johannes Kaspar. Es zeige sich immer wieder, dass schon von Gericht zu Gericht und von Bundesland zu Bundesland sowieso die Urteile höchst unterschie­dlich ausfallen können.

Insofern gilt noch immer das alte Sprichwort: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.“

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FOTO: DPA „Was im Januar passiert ist, ist die schlimmste Katastroph­e meines Lebens“, sagte der Angeklagte Andreas P. vor dem Landgerich­t Würzburg.

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