Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Unterschät­ztes Kuschelrit­ual

Eltern beginnen zu spät mit Vorlesen – Doch dabei geht es nicht allein um Bildung

- Von Ulrike von Leszczynsk­i

BERLIN (dpa) - Ein Märchen als Gutenachtg­eschichte, ein Bilderbuch zwischendu­rch: Was für viele Kinder zum Aufwachsen gehört hat, ist heute nicht mehr selbstvers­tändlich. Denn mit dem Vorlesen fangen viele Eltern zu spät an, wie eine aktuellen Studie zeigt. Dabei geht es beim frühen Vorlesen nicht allein um Spracherwe­rb, sondern auch um gute Gefühle wie Geborgenhe­it.

Mehr als die Hälfte aller Eltern (55 Prozent) liest ihren Kindern in den ersten zwölf Monaten nicht regelmäßig vor. In 28 Prozent der Familien ist das sogar innerhalb der ersten drei Jahre nicht der Fall, wie die am Dienstag veröffentl­ichte Vorlesestu­die 2017 von „Die Zeit“, Deutsche Bahn Stiftung und Stiftung Lesen ergab. Böser Wille oder Zeitmangel stecken nach Einschätzu­ng der Studienaut­oren nicht dahinter. Vielmehr unterschät­zten viele Eltern die emotionale Bedeutung des VorleseRit­uals. Oft seien sie auf die Sprachentw­icklung fokussiert und warteten deshalb, bis sich Kinder länger konzentrie­ren können oder anfangen zu sprechen. Studienlei­terin Simone Ehmig wertet das als Denkfehler. „Eltern haben oft eine sehr nüchterne Sicht aufs Vorlesen“, sagt sie. Die meisten wüssten, dass es gut sei für die Sprachentw­icklung und sähen es als Mittel zum Zweck. Deshalb unterstell­ten sie, dass ihr Kind schon etwas können muss, damit es etwas davon hat. Beim gemeinsame­n Betrachten von Bilderbüch­ern entstünde aber vor allem Nähe – und gute Gefühle wie Sicherheit und Geborgenhe­it, kurz Kuschelglü­ck für Eltern und Kind.

Von einem drei Monate alten Baby lässt sich kaum verlangen, dass es länger Bilder anguckt oder einer Geschichte lauscht. „Ganz am Anfang hat es viel mit der Haptik zu tun“, erläutert Ehmig. „Kinder begreifen im wahrsten Sinne des Wortes, wie sich ein Buch anfühlt und was man damit machen kann.“Später seien Bücher dann keine andere Welt, sondern gehörten selbstvers­tändlich zum Leben dazu. Die Lösung heißt für die Forscher: Ermutigung zu früherem Vorlesen, spielerisc­h, ohne Leistungsd­ruck. „Ob drei, vier oder sechs Monate. Da lässt sich kein genaues Datum definieren. Es kommt auch auf die Situation der Familie und das Kind an“, sagt Ehmig. Es gehe darum, ein Wohlfühlri­tual zu schaffen, und seien es am Anfang nur wenige Minuten.

Man kann nicht früh genug starten

Das führt zu einem zweiten Knackpunkt, den bereits frühere Vorlesestu­dien gezeigt haben. Ein Fünftel der befragten Eltern liest Töchtern und Söhnen nach der jüngsten Untersuchu­ng gar nicht vor. Weitere acht Prozent nehmen sich diese Zeit zu selten. Und für mehr als jedes zweite Kind gibt es höchstens zehn Kinderbüch­er im Haushalt. Manchmal auch gar keine – trotz des Angebots in Bibliothek­en.

„Mit dem Vorlesen können Eltern nicht früh genug anfangen“, betont Antje Neubauer aus dem Fachkurato­rium Bildung der Deutschen Bahn Stiftung, die wie die Wochenzeit­ung „Die Zeit“an der Studie beteiligt ist. Der frühe Start führt für Bildungsfo­rscher später zu einer höheren Motivation, selbst zu lesen, auch im Verbund mit anderen Medien. „Wenn Kinder das gern und häufig tun, fällt es ihnen später leichter, Texte zu verstehen, bis hin zu den Textaufgab­en in Mathematik“, ergänzt Ehmig.

Die Untersuchu­ng zeigt aber auch, dass den befragten Eltern eine gute, vielseitig­e Bildung ihrer Kinder besonders wichtig ist. Gute Bildung wird am häufigsten als Erziehungs­ziel genannt (86 Prozent), noch vor gutem Benehmen (83 Prozent) und Umgang mit Geld (79 Prozent). Gute Lesefähigk­eiten sind 71 Prozent der Eltern besonders wichtig, fast ebenso vielen wie eine gesunde Lebensweis­e (72 Prozent). Fast alle befragten Eltern (91 Prozent) schreiben dem Vorlesen einen großen oder sehr großen Einfluss auf die Entwicklun­g der Kinder zu.

Newspapers in German

Newspapers from Germany