Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Marcel Reif hasst „Hassfratzen“
Sportexperte plauderte im Hugendubel aus dem Nähkästchen
ULM - Er ist wie keiner. Vor allem war er der wohl bekannteste deutsche Sport-, insbesondere Fußball-Fernsehkommentator der vergangenen 30 Jahre: Marcel Reif, inzwischen 68 Jahre alt, kompetent in seinem Metier, selbstbewusst und auch ein wenig eitel. Längst ist er auch Autor von Büchern, in denen es – natürlich – um Fußball geht.
Sein neuestes, das vierte, heißt „Nachspielzeit“. Dieses stellte er launig in kurzen Auszügen am Montagabend in der Ulmer Buchhandlung Hugendubel vor. Dorthin war die Veranstaltung mit den Interviewern Dagmar Engels (Vh Ulm) und Wolfgang Niess (SWR) verlegt worden, die ursprünglich im Einsteinhaus geplant war.
Die etwa 60 Besucher erfuhren am Montag aber nicht nur, was Marcel Reif über den Fußballsport schlechthin oder über seinen früheren Job bei ZDF, RTL und Sky zu sagen hat, sie durften an seinem privaten Leben teilhaben und hörten Anekdoten aus seinem Berufsleben, die das Publikum mal staunen ließen
– wie er zum Beispiel den weltberühmten ehemaligen argentinischen Fußballstar Diego Maradona als einziger der Journalistenschar zu einem Interview bewegte.
Im Buch „Nachspielzeit“erfährt der Leser zu Beginn, wie Marcel Reif aufwuchs. Jüdischstämmig wurde er in Polen geboren. 1956 emigrierten seine Eltern mit ihm nach Israel. Reif: „Jeder anständige Jude versuchte, im gelobten Land Fuß zu fassen. Aber das war nicht das Land, in dem meine Eltern leben konnten.“
Und so zog die Familie nach Deutschland und ließ sich in Kaiserslautern nieder. Es kam die Zeit, die Reif später veranlasste zu sagen: „Fußball hat mein Leben gerettet.“Der Junge sprach damals so gut wie kein Deutsch und musste als Achtjähriger in der ersten Klasse mit Sechsjährigen zusammen pauken. Aber er konnte ganz gut Fußball spielen.
Deshalb brachten ihn seine Eltern zum 1. FC Kaiserslautern. „Da musste ich nicht reden, da konnte ich kicken“, erinnert sich der heute in der Schweiz lebende Journalist. Er wurde sogar ein guter Spieler, gesteht aber: „Zum Profi in der ersten Liga hätte es wohl nicht gereicht.“
Reif wurde groß, studierte Publizistik, Amerikanistik und Politik. Danach arbeitete er zunächst als freier Mitarbeiter für die „heute“-Nachrichten und das „heute-Journal“beim ZDF, anschließend als ZDFKorrespondent in London.
Er erzählte: „Als ich dann den Korrespondentenjob, den ich wollte, nicht bekam, überzeugte mich mein damaliger Mentor und ZDF-Sportchef Dieter Kürten, in seine Abteilung zu kommen.“So wurde Reif Sportkommentator. Ein ebenso guter wie von vielen gehasster. Aber Letzteres hat ihn nicht angefochten: „Eine Hälfte der Fans fand meine Kommentare gut, die andere nicht. Sie werden mir keine sachlichen Fehler nachweisen. Ich konnte meinen Job, ich verstehe das Spiel.“
Reif ist von sich überzeugt und auch deshalb nimmt er kein Blatt vor den Mund. Das tat er auch in Ulm auf die Fragen der Interviewer nicht, die sich offensichtlich sehr gut mit ihm und seinem neuen Buch beschäftigt hatten. Für ihn sind Fans „dumm und blind, denn sie können nicht relativieren. Alle müssen ihren Verein lieben. Ich habe in den Stadien hinter den Scheiben Hassfratzen gesehen, die meine Entscheidung aufzuhören, maßgeblich beeinflusst haben.“Für den Buchautor gibt es im Fußball auch keine Helden.
Wenn Reif von heldenhaften Menschen spricht, dann am ehesten von seinem Vater, weil er seine Familie in schweren, vor allem nationalsozialistischen Zeiten durchgebracht hat und von Berthold Beitz, der im Dritten Reich seinen Vater und hunderte anderer Juden gerettet hat.
222 Millionen Euro für Neymar „gut angelegtes Geld“
Reif sprach auch über die zunehmende Kommerzialisierung im Fußball und meinte: „222 Millionen für einen Fußballspieler sind obszön, aber gut angelegtes Geld. Neymar ist ein super Fußballer und Paris St. Germain ist jetzt Champion-League-Favorit. Bayern München wird sich fragen: Machen wir da mit oder nicht.“Wenn die Bayern sich gegenüber derartiger Supertransfers verweigerten, würden sie die ChampionsLeague „nicht mehr gewinnen“. Orakelt einer, der eigentlich Politikjournalist werden wollte, weil Fußball nur sein Hobby war.