Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Harte Arbeit für den Glanz
Blick hinter die Kulissen im Bolschoitheater: Körperliche Disziplin für die Tänzer, großer Druck von der Politik fürs Opernhaus
MOSKAU (dpa) - Die Lichter geben nur einen kurzen Blick auf die Bühne frei: Dort, wo sonst Ballerinas des Moskauer Bolschoitheaters grazil tanzen, hämmert es im Sekundentakt. Ein Techniker schlägt die letzten Bolzen in die Hebebühne. So elegant und prunkvoll der mit Stuck und Blattgold verzierte Zuschauersaal ist, auf der Bühne herrschen graue Bretter vor. „Eigentlich ist es viel zu gefährlich hier“, sagt Katerina Nowikowa, die durch das renommierte Theater der russischen Hauptstadt führt. Schwere Bühnenbilder hängen in der Luft, Helfer laufen mit Requisiten-Schwertern herum.
Von der Sinnlichkeit, die in den Stücken vom Publikum so sehr bewundert wird, ist wenige Stunden vor der Vorstellung von Modest Mussorgskis Oper „Boris Godunow“wenig zu spüren.
Großer psychischer Druck
In Nebenräumen proben Balletttänzer. Mehr als 200 Tänzer zählen zum Ensemble des Bolschoi, das schon unter den Zaren und Sowjets als Aushängeschild galt. Insgesamt arbeiten in dem Haus 3000 Menschen. Traum vieler Mädchen und Jungen ist es, über die Staatliche Akademie für Choreografie in Moskau, die Talentschmiede des Bolschoi, einen Platz in der Truppe zu ergattern. Sollten sie es schaffen, haben sie 20 Jahre harte körperliche Arbeit vor sich. „Wer gut ist, geht mit 35 oder 38 in Rente“, sagt Bolschoi-Sprecherin Nowikowa. Der Körper schafft nicht mehr. Doch auch der psychische Druck ist groß.
„Manchmal schmerzen die Zehen, manchmal der ganze Körper. Aber ich kann im Bolschoi tanzen, das ist es wert“, sagt die junge Ballerina Daria. Beinahe jeden Tag trainiert sie, um vielleicht eine Hauptrolle oder einen Soloauftritt zu bekommen. Jede Nachlässigkeit, jedes Gramm zusätzliches Gewicht könnte ihre Karriere vorzeitig beenden. „Der Körper gewöhnt sich an den Schmerz“, sagt die 25-Jährige.
Zum Saisonstart im Herbst läuft im international bekannten Bolschoitheater in unmittelbarer Nähe des Roten Platzes das Tagesgeschäft wieder an. Theaterdirektor Wladimir Urin versammelt wie jedes Jahr Ensemble und Mitarbeiter, um auf die neue Spielzeit einzustimmen. Die russische Kulturszene erwacht aus dem Sommerschlaf, die in diesem Jahr für das Moskauer PrestigeOpernhaus keine Verschnaufpause war.
Denn das Ballett steht in den internationalen Schlagzeilen – und an der Frontlinie der heimischen Kulturpolitik. Zum Saisonende hatte Urin zum Entsetzen der Beteiligten zunächst kurzfristig das Ballett „Nurejew“des Regisseurs Kirill Serebrennikow ganz aus dem Programm gestrichen. Später wurde dieser wegen Betrugsverdachts bei einem anderen Theaterprojekt festgenommen, er steht seither unter Hausarrest. Die Moskauer Kulturszene sieht dieses Vorgehen als Versuch, einen kritischen Künstler mundtot zu machen.
Dass zwischenzeitlich das Opernund Ballettensemble ständig tourte, dem Präsidenten bei Auslandsaufenthalten als kulturelle Entourage diente, wurde weitaus weniger beachtet. „Immer geht es nur um Serebrennikow. Als ob nichts anderes relevant ist“, mosert eine Mitarbeiterin. Zehn Premieren soll es in der 242. Saison geben, und auch „Nurejew“zählt dazu. Am vergangenen Freitag gab Urin bekannt, dass „Nurejew“ohne Serebrennikow auf die Bühne gebracht werden soll. Zwei Premieren seien für 9. und 10. Dezember geplant.
Wie ein Labyrinth
Eilig bringt ein junger Mann zwei weiße plüschige Röcke in die Probenräume, eine Ballerina läuft ihm aufgeregt entgegen. Aus einem Nebenraum hört man die Töne einer Klaviersonate von Peter Tschaikowsky. Wie ein Labyrinth sind die fünf Häuser mit Brücken und unterirdischen Gängen verbunden. Nach außen sieht man nur sieben Stockwerke des historischen Gebäudes; dass es noch einmal fünf Etagen in die Tiefe geht, bleibt dem normalen Theaterbesucher verborgen.
Einige Bereiche bleiben zudem tabu. „Gewisse Räume dürfen nur Regierungsmitglieder und vielleicht wichtige Staatsgäste betreten“, sagt Nowikowa. Nicht einmal BolschoiMitarbeitern wird der Zutritt dorthin erlaubt, wo Tischchen und samtene Möbelstücke stehen sollen, die es schon zu Zeiten des letzten Zaren, Nikolaus II., gab. Von der Loge aus, in die heute Präsident Wladimir Putin seine Gäste bringt, schaute sich bereits der Zar die grazilen Bewegungen der Tänzer an.
Skandale, ein Säureanschlag auf den ehemaligen Ballettchef vor einigen Jahren, und auch der Fall Serebrennikow: Das Bolschoitheater hat auch intern mit Dramen zu kämpfen. Nicht nur auf der Bühne.
Das Traditionshaus wurde vor sechs Jahren wiedereröffnet, nachdem das auf sumpfigem Gelände gebaute Haus vorher über Jahrzehnte Risse bekommen hatte und fast eingestürzt wäre.
Jetzt ist zwar alles nach Originalskizzen renoviert, die Sowjetsymbole Hammer und Sichel wurden von den Wänden entfernt. Zugleich ist aus dem ehrwürdigen Theater ein Hochsicherheitstrakt geworden. Wie am Flughafen werden Gäste und Mitarbeiter durchleuchtet und Sicherheitspersonal bewacht die Eingänge.