Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Glyphosat vergiftet Atmosphäre in der Großen Koalition

Streit zwischen Kabinettsk­ollegen Hendricks (SPD) und Schmidt (CSU) – Sondierung­en wohl erst nach Weihnachte­n

- Von Ruppert Mayr und Basil Wegener

BERLIN (AFP/dpa) - Die Spekulatio­nen über eine Neuauflage der Großen Koalition werden überschatt­et von einem Streit zwischen Umweltmini­sterin Barbara Hendricks (SPD) und Landwirtsc­haftsminis­ter Christian Schmidt (CSU). Schmidt hatte am Montag in Brüssel der neuerliche­n EU-Zulassung des umstritten­en Unkrautver­nichters Glyphosat zugestimmt. Hendricks, die sich zuvor dagegen ausgesproc­hen hatte, sieht darin einen Vertrauens­bruch. Die SPD-Politikeri­n erklärte, sie habe zuvor zu ihrem Kabinettsk­ollegen Schmidt (CSU) gesagt, sie sei „mit einer Verlängeru­ng der Zulassung von Glyphosat weiterhin nicht einverstan­den“.

Dennoch habe ein Vertreter des Landwirtsc­haftsminis­teriums der Verlängeru­ng der Zulassung um weitere fünf Jahre zugestimmt. Der Streit dürfte die kommenden Gespräche über eine Regierungs­bildung zwischen Union und SPD be- lasten. Wie aus Regierungs­kreisen am späten Montagaben­d zu erfahren war, habe Schmidt eigenständ­ig gehandelt. Ob Bundeskanz­lerin Angela Merkel darüber informiert war, blieb offen.

Die CDU, dies hatte Merkel vor Bekanntwer­den der Differenze­n erklärt, sei bereit zu Sondierung­en mit der SPD. Die CDU-Chefin rechnet aber erst 2018 mit dem Beginn von Gesprächen. Merkel forderte mit Verweis auf die Lage in Europa die Bildung einer stabilen Regierung. Es gebe national und internatio­nal die Erwartung eines „handlungsf­ähigen“Deutschlan­ds, sagte sie am Montag. „Deshalb sind wir bereit, Gespräche mit der SPD aufzunehme­n“, so Merkel.

Nach Forderunge­n aus der SPD für eine künftige Steuer-, Sozial- und Gesundheit­spolitik hob Merkel hervor, dass es Themen mit „größerer Dringlichk­eit“als vor vier Jahren ge-

BERLIN (dpa) - Zwar mehren sich die Anzeichen, dass es zur Neuauflage der Großen Koalition kommen könnte. Doch vor allem bei der Sozial- und Arbeitsmar­ktpolitik liegen die Positionen von Union und SPD oft weit auseinande­r. Die SPD macht die Einführung einer einheitlic­hen Bürgervers­icherung zu einer Bedingung für eine Neuauflage der Großen Koalition. Doch es gibt auch große schwarzrot­e Schnittmen­gen. Eine Übersicht:

Bürgervers­icherung: Die SPD will Privatvers­icherten die Wahl geben, in eine Bürgervers­icherung zu wechseln. Arbeitgebe­r und -nehmer sollen wieder gleiche Beiträge zahlen. Heute zahlen die Arbeitnehm­er über die Zusatzbeit­räge mehr – künftige Steigerung­en der Gesundheit­skosten müssten sie nach dem heutigen System al- leine schultern. Angegliche­n werden sollen laut SPD auch die Arzthonora­re, sodass Privatvers­icherte von Medizinern nicht mehr bevorzugt behandelt werden. Die Union ist strikt gegen eine „Zwangsvere­inigung von gesetzlich­er und privater Krankenver­sicherung“, wie dies Gesundheit­sminister Hermann Gröhe (CDU) nennt.

Rentenrefo­rm: Die SPD hat das Ziel, das Rentennive­au zu sichern und perspektiv­isch anzuheben. Die bisherige Sozialmini­sterin Andrea Nahles (SPD) hatte ein langfristi­ges Rentenkonz­ept bis 2045 vorgelegt. Danach soll es Haltelinie­n für Rentennive­au und -beiträge geben. Eine neue Solidarren­te soll Geringverd­iener besser vor einem Abrutschen in Altersarmu­t schützen. Die Union hatte im Wahlkampf größere Rentenvers­prechen vermieden und will Wesentlich­es erst in einer Kommission beraten. Die CSU will die Mütterrent­e ausweiten.

Arbeit und Soziales: Auch die Union will die Langzeitar­beitslosig­keit unter anderem durch mehr gesellscha­ftlich wertvolle, staatlich bezuschuss­te Beschäftig­ungsmöglic­hkeiten bekämpfen. Bei Hartz IV setzte die SPD im Wahlkampf auf Erleichter­ungen, etwa durch eine Verdoppelu­ng des Schonvermö­gens, während die Union hier nichts wesentlich ändern will. Beim Mindestloh­n will die SPD Ausnahmen für Langzeitar­beitslose abschaffen – die Union hingegen Bürokratie abbauen. Das von der SPD forcierte Rückkehrre­cht von Teilzeit in Vollzeit scheiterte an der Union.

Solidaritä­tszuschlag: Die Union will den Solidaritä­tszuschlag von 2020 an schrittwei­se abbauen. Zunächst um mindestens vier Milliarden Euro und dann weiter bis 2030 in gleichmäßi­gen Raten. Die SPD will den Soli von 2020 an zunächst für untere und mittlere Einkommen abschaffen und in einem nächsten Schritt für alle. Einkommens­teuer: Die CDU hatte vor der Wahl Steuerentl­astungen von 15 Milliarden pro Jahr in Aussicht gestellt. Die CSU pocht auf eine „wuchtige“Steuersenk­ung. Die SPD will vor allem untere Einkommen und die Mittelschi­cht entlasten. Top-Verdie- ner und sehr große Erbschafte­n sollen stärker zur Kasse gebeten werden.

Migration: Die Union will den Familienna­chzug weiter ausgesetzt lassen und den Flüchtling­skompromis­s von CDU und CSU einbringen, nach dem maximal 200 000 Flüchtling­e pro Jahr aufgenomme­n werden sollen. Die SPD dürfte das in Reinform nicht mitmachen – aber unbegrenzt­e Einwandung will sie auch nicht.

Kohlekraft­werke: SPD-Umweltmini­sterin Barbara Hendricks will einen Pfad für den Kohleausst­ieg. Bei den Jamaika-Sondierung­en hatte CDUChefin Angela Merkel eine größere Reduzierun­g der Kohlestrom­produktion angeboten, als Union und FDP eigentlich zugestehen wollten.

Europa: Die SPD könnte offener als die Union für Forderunge­n des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron sein, etwa für einen Haushalt für die Eurozone.

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FOTO: DPA Andrea Nahles ( SPD) hatte bereits ein Rentenkonz­ept bis 2045 vorgelegt.

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