Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Erdogan hat Angst vor einem Inhaftierten
Begleitet von massiven Sicherheitsmaßnahmen hat am Donnerstag in Ankara der Prozess gegen Selahattin Demirtas begonnen, den inhaftierten Chef der türkischen Kurdenpartei HDP. Der Angeklagte konnte nicht persönlich an dem Termin im Gericht teilnehmen – er sitzt derzeit mehrere Hundert Kilometer weit weg in einem Gefängnis in Edirne an der bulgarischen Grenze ein.
Demirtas war bis zu seiner Festnahme vor über einem Jahr einer der wirksamsten Gegenspieler von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Kritiker werfen der Regierung vor, einen führenden Oppositionsvertreter mit unlauteren Mitteln aus dem Verkehr ziehen zu wollen. Dem Politiker wird Mitgliedschaft in der verbotenen kurdischen Terrororganisation PKK unterstellt; die Anklage fordert 142 Jahre Haft. Wann mit einem Urteil zu rechnen ist, blieb am Donnerstag offen.
Der 44-jährige Anwalt Demirtas aus dem osttürkischen Elazig hatte die HDP über die kurdische Anhängerschaft hinaus für linksliberale Türken geöffnet. Er war als Spitzenkandidat maßgeblich am Erfolg seiner Partei bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 beteiligt. Das starke Abschneiden der HDP war damals einer der Gründe dafür, dass die ErdoganPartei AKP ihre Mehrheit im Parlament verlor. Erdogan ließ kurz darauf eine Neuwahl ansetzen, bei der die AKP ihre beherrschende Stellung zurückeroberte. Demirtas war zudem einer der führenden Gegner des von Erdogan angestrebten Präsidialsystems.
Behörden wollen Rede verhindern
Im Mai vergangenen Jahres ebnete die Aufhebung der Immunität der türkischen Parlamentsabgeordneten den Weg für Demirtas’ Verhaftung Anfang November 2016. Bei der Entscheidung wurde die AKP von den anderen beiden Oppositionsparteien im Parlament unterstützt. Einen öffentlichen Auftritt des als brillanten Redner bekannten Demirtas vor Gericht wollen die Behörden unbedingt vermeiden. Deshalb soll der Angeklagte nicht selbst vor dem Richter erscheinen, sondern per Video aus Edirne zugeschaltet werden. Demirtas lehnt das ab, weshalb der Prozessauftakt ohne ihn stattfand.
Mit dem Prozess räche sich die AKP-Regierung an Demirtas für die Schmach der Juni-Wahl im Jahr 2015, sagte der Anwalt Aydin Erdogan, einer von mehr als tausend Verteidigern, die sich als Rechtsbeistand für den Kurdenpolitiker gemeldet haben. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte, der Prozess gegen Demirtas entspreche einem Muster beim Vorgehen der türkischen Regierung gegen Andersdenkende. Dazu gehöre die lange Untersuchungshaft und die Umdeutung von Meinungsäußerungen als angebliche Beweise terroristischer Aktivitäten.