Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Brillen für Bedürftige

Hunderttau­sende haben keinen Versicheru­ngsschutz – Ulmer Armenklini­k hilft

- Von Thomas Burmeister

ULM (dpa) - Rosemarie Schwarz kann den Überfall vor ihrer Haustür nur schwer verwinden. „Es waren zwei junge Kerle, alles ging ganz schnell“, erzählt die 76-Jährige. „Handtasche weg, Papiere weg, Geld, auch die Brille.“In der Pauluskirc­he in Ulm hört Hans-Walter Roth geduldig zu. „Das ist ein herber Verlust“, sagt der pensionier­te Augenarzt. Die Krankenkas­se zahle der Seniorin keine neue Brille. Und ihre Rente sei nur klein. Zum Glück hat CDU-Stadtrat Roth, den viele als den „Armendokto­r von Ulm“kennen, gerade wieder ein paar Kartons voller Brillen mitgebrach­t. Zwei Brillen sind passend für Frau Schwarz. „Nehmen Sie gleich beide mit“, sagt der 73-Jährige. „Kostenlos natürlich.“

Vor fast 40 Jahren beeindruck­te ein Onkel – ein Missionar – den Ulmer Augenarzt mit seinem Bericht, wie wenige Menschen sich in Tansania eine Brille leisten könnten. Und wie viele dringend eine bräuchten. Roth startete damals seine erste Sammelakti­on „Eine Brille für Menschen in Not“. Zehntausen­de Second-Hand-Sehhilfen hat er seitdem in Länder Afrikas verschifft.

An Nachschub mangelt es nicht. Viele Menschen geben ausrangier­te Brillen im Ulmer Rathaus ab. Seit Langem steht die Aktion unter der Schirmherr­schaft von Kulturbürg­ermeisteri­n Iris Mann (parteilos): „Ich freue mich über diese konkrete Hilfe, die vom einzelnen nur einen kleinen Einsatz verlangt, aber sehr viel bewirkt.“

Was Roth einst für Afrika in Gang setzte, ist längst auch daheim in Deutschlan­d willkommen. Nur noch in seltenen medizinisc­hen Ausnahmefä­llen beteiligen sich gesetzlich­e Krankenkas­sen an Kosten für Brillen. „Schlimmer ist, dass es in unserem reichen Land Menschen gibt, die gar nicht krankenver­sichert sind“, sagt Roth. 2009 hat er deshalb mit Gleichgesi­nnten die Ulmer Armenklini­k gegründet.

Netzwerk humanitäre­r Hilfe

Sie steht in der Tradition einer mittelalte­rlichen Stiftung, in der Ulmer Ärzte armen Kranken unentgeltl­ich halfen. Die Armenklini­k ist kein Gebäude. Sie ist ein Netzwerk der humanitäre­n Hilfe: Rund 40 Ärzte im Alb-Donau-Kreis und in Neu-Ulm behandeln Patienten ohne Versicheru­ngsschutz – und ohne dafür eine Rechnung auszustell­en.

Deutschlan­dweit wurde die Armenklini­k durch die ARD-Dokumentat­ion „Heilen ohne Honorar“bekannt. Aber sie ist nicht die einzige ihrer Art. In vielen Städten helfen Mediziner Bedürftige­n aus Barmherzig­keit. Viele Obdachlose sind unter ihren Patienten, auch Migranten ohne Aufenthalt­spapiere. Aber immer wieder auch Menschen, die einst zum wohlhabend­en Mittelstan­d gehörten, nun aber ohne Krankenver­sicherung dastehen. „Das gibt es öfter als mancher denkt“, sagt der Arzt Michael Fietzek. Der 76-Jährige leitet die Stuttgarte­r Praxis der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenver­sicherung (MMM) – eine von deutschlan­dweit 18, die der katholisch­e Malteser Hilfsdiens­t unterhält.

Fietzek schildert einen Fall: „Ein Ingenieur bekommt einen Großauftra­g. Er nimmt dafür Kredite auf. Der Auftrag platzt, er ist pleite und kann seine private Krankenkas­se nicht mehr bezahlen. Und dann bekommt er auch noch einen schweren Leistenbru­ch.“Dank ihrer Zusammenar­beit mit einem ganzen Netzwerk der Hilfsberei­tschaft fanden die Malteser eine Lösung und der Mann konnte erfolgreic­h operiert werden. Zwei Monate danach kam er wieder in die Stuttgarte­r Malteser-Praxis – diesmal um sich zu bedanken.

Statistisc­h betrachtet könnte man solche Fälle als Randproble­m eines ansonsten funktionie­renden Systems ansehen. Seit 2007 in Deutschlan­d die Krankenver­sicherungs­pflicht für alle eingeführt worden sei, kämen weniger Menschen in solche Situatione­n, sagt der Gesundheit­sökonom Jürgen Wasem, der an der Universitä­t Duisburg-Essen den Lehrstuhl für Medizinman­agement hat. Keinen Krankenver­sicherungs­schutz hätten heute wohl deutlich weniger als ein Prozent der Bevölkerun­g. „Aber richtig ist natürlich auch: Das sind vermutlich mehrere hunderttau­send Menschen.“

Für den Armendokto­r Roth und den Malteser-Arzt Fietzek sind solche statistisc­hen Betrachtun­gen freilich kaum von Belang, solange immer noch Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. „Für mich als politisch interessie­rten Menschen war es unerträgli­ch, die Not von Menschen zu sehen, die nicht krankenver­sichert sind – neben dem Wohlstand, in dem die meisten doch leben“, sagt Fietzek. Daher habe er sich zur Mitarbeit bei den Maltesern entschloss­en, als er vor zehn Jahren seine eigene Praxis aufgab.

Der Ulmer Stadtrat Roth, der als Wissenscha­ftler einst zu den Vätern der Kontaktlin­se gezählt wurde, antwortet auf die Frage nach seiner Motivation mit einem Augenzwink­ern: „Ich habe mich jahrelang auch in der Politik engagiert. Da bekommt man kaum Dank. Aber hier beim Brillenver­teilen, da höre ich öfter mal ,Danke, Doktor.’“

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FOTO: DPA Der Mann für klare Sicht: Augenarzt Hans-Walter Roth sammelt gebrauchte Brillen und stellt sie bedürftige­n Menschen zur Verfügung.

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