Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Razzia in Ellwanger Flüchtlingsunterkunft
Lob für den Polizeieinsatz in der LEA – Seehofer kündigt „Härte und Konsequenz“an
ELLWANGEN/WALLDORF/BERLIN Die Polizei hat am Donnerstagmorgen mit Hunderten Beamten die Landeserstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (LEA) in Ellwangen durchsucht. Die Razzia war Folge einer von 150 bis 200 Migranten gewaltsam blockierten Abschiebung eines Asylbewerbers aus Togo in der Nacht zum Montag. Der 23-Jährige wurde nun gefasst. Er befindet sich in Abschiebehaft und soll nach Italien zurückgeführt werden, wo er erstmalig in die EU kam.
Bei den Durchsuchungen ging es jedoch nicht nur um den Togolesen, sondern um die generelle Eindämmung von Kriminalität. „Wir hatten in der LEA Hinweise auf Strukturen, die behördliche Maßnahmen unterbinden wollen“, sagte Polizeivizepräsident Bernhard Weber. Die Polizei sei Hinweisen nachgegangen, wonach sich die Asylsuchenden bei künftigen Polizeieinsätzen zusammenschließen und womöglich bewaffnen wollten.
„Die Situation war sehr angespannt, sehr aufgeheizt“, sagte Einsatzleiter Peter Hönle. Es seien mehrere Ermittlungsverfahren wegen Drogendelikten, Diebstahls und Hausfriedensbruchs eingeleitet worden. Bei 18 Flüchtlingen wurde mehr Bargeld gefunden als die in der Regel zulässigen 350 Euro. In der Unterkunft sind aktuell 490 Menschen untergebracht, 292 davon habe die Polizei kontrolliert, teilte ein Sprecher mit. 26 Asylsuchende hätten sich widersetzt und wollten flüchten, elf sprangen aus dem Fenster. Bei dem Einsatz wurden zwölf Menschen verletzt: elf Bewohner sowie ein Polizeibeamter. 17 Asylbewerber, die als Unruhestifter aufgefallen seien, werden nun in andere Landeserstaufnahmeeinrichtungen verlegt.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte, für ihn sei klar, „dass das Gastrecht nicht mit Füßen getreten werden darf“. Er stehe „politisch voll hinter den Maßnahmen der baden-württembergischen Sicherheitsbehörden und der Polizei“. Die empörenden Widerstandshandlungen müssten „mit aller Härte und Konsequenz“verfolgt werden. Was sich am Montag in der LEA abgespielt hatte, sei ein „Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung“.
„Wir dulden keine rechtsfreien Räume und dieser Angriff auf Polizisten muss geahndet werden“, erklärte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Innnenminister Thomas Strobl (CDU) äußerte sich bei einem Termin in Walldorf ähnlich. Der Einsatz sei notwendig gewesen. Man werde „Recht und Gesetz durchsetzen“, sagte er. Die Landtags-AfD forderte derweil eine Sondersitzung des Innenausschusses zu den Vorgängen in der Flüchtlingsunterkunft. Der AfD-Abgeordnete Stefan Räpple legte Strobl den Rücktritt nahe.
Lob für den Großeinsatz kam von den Polizeigewerkschaften. „Der Staat darf bei Angriffen auf den Rechtsstaat und seine Vertreter keine Antwort schuldig bleiben“, sagte Oliver Malchow, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Es sei „professionell“gewesen, die Situation zunächst ausführlich zu bewerten. Rainer Wendt, der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, sagte zur „Schwäbischen Zeitung“: „Auch wenn Recht mit zeitlicher Verzögerung durchgesetzt wird, wird es durchgesetzt. Diejenigen, denen man Straftaten nachweisen kann, müssen in Untersuchungshaft und sollten die Freiheit erst wieder erlangen, wenn sie den Boden ihrer eigenen Heimat betreten. Das wäre das richtige Signal.“
ELLWANGEN - Es ist kurz nach fünf Uhr am Donnerstagmorgen, als eine Armada von Fahrzeugen der Polizei bei der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) in Ellwangen anrückt. Hunderte Polizisten mit Hunden und Spezialkräfte gehen in Stellung, während die Dämmerung langsam heraufzieht. Auch Notärzte und Sanitäter stehen in gespannter Erwartung bereit. Dann ist es 5.15 Uhr – Zugriff. Damit beginnt eine Machtdemonstration des Rechtsstaates, die sich nicht wenige Ellwanger bereits drei Tage zuvor von der Polizei gewünscht hätten – als die Beamten ihre Maßnahmen zu einer geplanten Abschiebung in der Nacht zum Montag abbrechen mussten.
Dafür hat sich die Polizei viel anhören müssen: Für viele hat es so ausgesehen, als könne sich der Staat nicht durchsetzen. Als sei die Exekutive machtlos. Dieses Bild haben die Einsatzkräfte am Donnerstag korrigiert. Und zwar so weitreichend, dass nun wiederum Stimmen mit der Frage laut werden, ob der Einsatz verhältnismäßig gewesen ist.
Für manche Flüchtlinge, die unsanft aus dem Schlaf gerissen wurden, ist die Sache klar, ein Bewohner berichtet am Donnerstag nach dem Einsatz vor der LEA: „Wir haben geschlafen, da kamen sie rein, weckten uns laut, haben getreten und geschlagen und alle Sachen durcheinandergebracht. Ich wusste gar nicht, was los ist“, sagt der 34-jährige Ndidi aus Nigeria auf Englisch. „Sie haben alle rausgeholt aus den Zimmern, haben viele gefesselt, manche Leute sind verletzt worden.“Nach offiziellen Angaben erlitten tatsächlich elf Bewohner und ein Polizist Verletzungen. Beim Sprung aus Fenstern zogen sich zwei Flüchtlinge Blessuren zu.
Unruhestifter verlegt
Polizisten vom Polizeipräsidium Aalen, dem Präsidium Einsatz (früher Bereitschaftspolizei), Fachleute vom Landeskriminalamt mit zehn Diensthunden waren auf das ehemalige Kasernengelände ausgeschwärmt und kontrollierten in drei Gebäuden alle alleinstehenden Männer und teils auch Frauen und Familien. Und sie trafen nach Behördenangaben den Togolesen an, der abgeschoben werden sollte und nicht untergetaucht war, sondern sich in seinem Zimmer befand. Noch am Donnerstag wird er in Abschiebehaft genommen und 17 weitere Männer, die in der Vergangenheit schon Unruhe gestiftet haben sollen, in andere Landeserstaufnahmeeinrichtungen verlegt.
Während es der Polizei dieses Mal gelungen ist, den Großeinsatz im Vorfeld geheim zu halten, hatten sich die Flüchtlinge in der Nacht zum Montag auf die Abschiebung vorbereitet, wie die Ermittlungen inzwischen ergeben haben. Mehrere Schwarzafrikaner hatten über eine Telefonkette Verstärkung herbeigerufen, als zwei Streifenwagen den Togolesen zur Abschiebung abholen wollten. „Eine Situation wie am Montag haben wir noch nie erlebt“, sagt Bernhard Weber, Vizepräsident des Polizeipräsidiums Aalen, bei einer Pressekonferenz am Donnerstag. „Abschiebungen gehören eigentlich zur Routine. Jetzt nicht mehr.“Mit lediglich zwei Streifenwagen werde die Polizei künftig nicht mehr vorfahren, macht Weber deutlich. „Wir werden weiter Abschiebungen vollziehen und keine rechtsfreien Räume entstehen lassen.“
Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass Widerstand erfolgreich ist. Denn die missglückte Polizeiaktion habe sich auch unter anderen Flüchtlingen – nicht nur in Ellwangen – via Handy schnell herumgesprochen. „Wir müssen klarmachen, dass das keine Chance hat.“Weber kündigt an, dass sich die Polizei im Präsidium Aalen angemessen verstärken werde, um künftig Interventionsmöglichkeiten zu haben. Wie viele Polizisten zusätzlich kommen werden, sagt er nicht.
Die Polizei hat die drei Tage bis zu ihrer Gegenreaktion am Donnerstag dazu genutzt, Fachleute zu mobilisieren. Unter den Hundertschaften sind Beamte des Landeskriminalamts, die überprüfen, ob Ausweise echt sind und auch tatsächlich denen gehören, die sie vorzeigen. Spezialisten für Verstecke nehmen die Gebäude gesondert unter die Lupe. Für Thomas Deines vom Regierungspräsidium Stuttgart, das die LEA betreibt, war das auch eine Art Großinventur. Mit dem Ergebnis, dass sich eine Handvoll Menschen in der LEA aufhielt, die dort eigentlich nichts verloren hatten.
Es gelte „null Toleranz“
„Für uns war klar, es muss eine Gegenreaktion erfolgen“, sagt Deines auf der Pressekonferenz. In der LEA gelte der Grundsatz „null Toleranz“. „Wir wollten ein Signal setzen, dass es so nicht geht wie am Montag. Wir müssen den Bewohnern zeigen, was richtig und was falsch ist.“
Bilanz nach Abschluss des Einsatzes um 12.30 Uhr: 292 Personen wurden kontrolliert. 26 wollten fliehen, was keinem gelang. Drei Bewohner wurden in der Klinik ambulant versorgt, acht Flüchtlinge an Ort und Stelle behandelt, wegen Prellungen, Übelkeit oder weil sie vor Stress hyperventilierten. Ein Polizist wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, nachdem er sich im Einsatz verletzt hatte. Daran sei aber kein Dritter beteiligt gewesen, sagt der Leitende Notarzt Hariolf Zawadil auf der Pressekonferenz. Der Mediziner war mit 39 Kräften vor Ort, weitere 60 hielten sich zusätzlich in Bereitschaft.
Fünf männlichen Bewohnern werden nach der Razzia Rauschgiftdelikte vorgeworfen, bei zweien besteht der Verdacht auf Diebstahl. 18 hatten mehr Geld als den erlaubten Freibetrag in Höhe von 350 Euro bei sich, 23 leisteten Widerstand, fasst Peter Hönle, Einsatzleiter vom Polizeipräsidium Aalen, vor den Journalisten zusammen. Außerdem entdeckten die Beamten mehrere Dokumente, die nicht zugeordnet werden konnten oder gefälscht waren. Waffen hat die Polizei bei der Razzia keine gefunden. Bewohner, die sich gegen die Maßnahmen stellten, haben laut Polizei ebenfalls keine Waffen eingesetzt.
Den Großeinsatz betrachten die Behörden auch als Signal an die teilweise verunsicherten Ellwanger. Nach dem Abschiebe-Flop vom Montag und den jüngsten Ereignissen fließen vor allem die sozialen Medien vor empörten Kommentaren über. 4000 bis 5000 Posts zählte Polizeisprecher Bernhard Kohn. Anrufe nicht mitgerechnet. Kritik, Beschimpfungen, alles sei dabei gewesen, sagt Kohn auf der Pressekonferenz.
Und die Stimmung vor Ort? Donnerstagnachmittag vor einem Café in der Ellwanger Innenstadt. Alles ist ruhig – von Aufregung keine Spur: „Man muss auf beiden Seiten aufpassen, dass es nicht eskaliert – es war richtig von der Polizei, so zu reagieren“, sagt Peter Freimuth. Und seine Begleiterin bedauert: „Es war in letzter Zeit so friedlich und jetzt wird das so aufgebauscht. Ich war wirklich geschockt, als ich das gehört hatte. Ich hatte eher Angst um die Polizisten, die vielleicht auch Familienväter sind.“Freimuth fürchtet, dass die Stimmung sich jetzt verschlechtert: „Ich war immer pro Flüchtlinge eingestellt und das ist jetzt natürlich Wasser auf die Mühlen der Gegner.“Der 47-jährige Ellwanger Peter Klass sagt: „Die dürfen die Polizei nicht untergraben. Dass die Polizei Kante gezeigt hat, war richtig.“
Die Lage beruhigt sich
Für die Befürworter einer Vertragsverlängerung als Erstaufnahmestelle haben die Ereignisse der vergangenen Tage keine Pluspunkte gebracht, sagt Ellwangens Oberbürgermeister Karl Hilsenbek. 2020 läuft der Fünfjahresvertrag für die LEA aus. Über eine Verlängerung soll der Gemeinderat noch vor der Sommerpause entscheiden. „Glasklar“ist für ihn, dass die LEA kein Ankerzentrum werden darf. Noch im April hatte der Stuttgarter Regierungspräsident Wolfgang Reimer (Grüne) erklärt, das „Interesse sowie die Hilfsbereitschaft und Unterstützung in der Bevölkerung sind weiterhin ungebrochen groß“.
Am Donnerstag deuten nur noch die abziehenden Einsatzfahrzeuge auf die dramatischen Szenen hin, die sich im Morgengrauen in und um die Landeserstaufnahmestelle ereignet haben. Jetzt wieder Alltagsbetrieb: Flüchtlinge bewegen sich ganz normal auf dem Gelände, ein Lkw fährt mit einer Gemüselieferung vor. Fast alles wie immer. Nur Ndidi aus Nigeria sagt, jetzt, nach der Razzia, habe er Angst. „Wo ich doch nach Deutschland gekommen bin, um Schutz zu suchen.“
Bilder und Videos vom Einsatz finden Sie online unter: www.schwäbische.de/lea