Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Razzia in Ellwanger Flüchtling­sunterkunf­t

Lob für den Polizeiein­satz in der LEA – Seehofer kündigt „Härte und Konsequenz“an

- Von Beate Gralla, Andreas Herholz, Kara Ballarin und Agenturen

ELLWANGEN/WALLDORF/BERLIN Die Polizei hat am Donnerstag­morgen mit Hunderten Beamten die Landeserst­aufnahmeei­nrichtung für Flüchtling­e (LEA) in Ellwangen durchsucht. Die Razzia war Folge einer von 150 bis 200 Migranten gewaltsam blockierte­n Abschiebun­g eines Asylbewerb­ers aus Togo in der Nacht zum Montag. Der 23-Jährige wurde nun gefasst. Er befindet sich in Abschiebeh­aft und soll nach Italien zurückgefü­hrt werden, wo er erstmalig in die EU kam.

Bei den Durchsuchu­ngen ging es jedoch nicht nur um den Togolesen, sondern um die generelle Eindämmung von Kriminalit­ät. „Wir hatten in der LEA Hinweise auf Strukturen, die behördlich­e Maßnahmen unterbinde­n wollen“, sagte Polizeiviz­epräsident Bernhard Weber. Die Polizei sei Hinweisen nachgegang­en, wonach sich die Asylsuchen­den bei künftigen Polizeiein­sätzen zusammensc­hließen und womöglich bewaffnen wollten.

„Die Situation war sehr angespannt, sehr aufgeheizt“, sagte Einsatzlei­ter Peter Hönle. Es seien mehrere Ermittlung­sverfahren wegen Drogendeli­kten, Diebstahls und Hausfriede­nsbruchs eingeleite­t worden. Bei 18 Flüchtling­en wurde mehr Bargeld gefunden als die in der Regel zulässigen 350 Euro. In der Unterkunft sind aktuell 490 Menschen untergebra­cht, 292 davon habe die Polizei kontrollie­rt, teilte ein Sprecher mit. 26 Asylsuchen­de hätten sich widersetzt und wollten flüchten, elf sprangen aus dem Fenster. Bei dem Einsatz wurden zwölf Menschen verletzt: elf Bewohner sowie ein Polizeibea­mter. 17 Asylbewerb­er, die als Unruhestif­ter aufgefalle­n seien, werden nun in andere Landeserst­aufnahmeei­nrichtunge­n verlegt.

Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) sagte, für ihn sei klar, „dass das Gastrecht nicht mit Füßen getreten werden darf“. Er stehe „politisch voll hinter den Maßnahmen der baden-württember­gischen Sicherheit­sbehörden und der Polizei“. Die empörenden Widerstand­shandlunge­n müssten „mit aller Härte und Konsequenz“verfolgt werden. Was sich am Montag in der LEA abgespielt hatte, sei ein „Schlag ins Gesicht der rechtstreu­en Bevölkerun­g“.

„Wir dulden keine rechtsfrei­en Räume und dieser Angriff auf Polizisten muss geahndet werden“, erklärte Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne). Innnenmini­ster Thomas Strobl (CDU) äußerte sich bei einem Termin in Walldorf ähnlich. Der Einsatz sei notwendig gewesen. Man werde „Recht und Gesetz durchsetze­n“, sagte er. Die Landtags-AfD forderte derweil eine Sondersitz­ung des Innenaussc­husses zu den Vorgängen in der Flüchtling­sunterkunf­t. Der AfD-Abgeordnet­e Stefan Räpple legte Strobl den Rücktritt nahe.

Lob für den Großeinsat­z kam von den Polizeigew­erkschafte­n. „Der Staat darf bei Angriffen auf den Rechtsstaa­t und seine Vertreter keine Antwort schuldig bleiben“, sagte Oliver Malchow, der Bundesvors­itzende der Gewerkscha­ft der Polizei. Es sei „profession­ell“gewesen, die Situation zunächst ausführlic­h zu bewerten. Rainer Wendt, der Bundesvors­itzende der Deutschen Polizeigew­erkschaft, sagte zur „Schwäbisch­en Zeitung“: „Auch wenn Recht mit zeitlicher Verzögerun­g durchgeset­zt wird, wird es durchgeset­zt. Diejenigen, denen man Straftaten nachweisen kann, müssen in Untersuchu­ngshaft und sollten die Freiheit erst wieder erlangen, wenn sie den Boden ihrer eigenen Heimat betreten. Das wäre das richtige Signal.“

ELLWANGEN - Es ist kurz nach fünf Uhr am Donnerstag­morgen, als eine Armada von Fahrzeugen der Polizei bei der Landeserst­aufnahmeei­nrichtung (LEA) in Ellwangen anrückt. Hunderte Polizisten mit Hunden und Spezialkrä­fte gehen in Stellung, während die Dämmerung langsam heraufzieh­t. Auch Notärzte und Sanitäter stehen in gespannter Erwartung bereit. Dann ist es 5.15 Uhr – Zugriff. Damit beginnt eine Machtdemon­stration des Rechtsstaa­tes, die sich nicht wenige Ellwanger bereits drei Tage zuvor von der Polizei gewünscht hätten – als die Beamten ihre Maßnahmen zu einer geplanten Abschiebun­g in der Nacht zum Montag abbrechen mussten.

Dafür hat sich die Polizei viel anhören müssen: Für viele hat es so ausgesehen, als könne sich der Staat nicht durchsetze­n. Als sei die Exekutive machtlos. Dieses Bild haben die Einsatzkrä­fte am Donnerstag korrigiert. Und zwar so weitreiche­nd, dass nun wiederum Stimmen mit der Frage laut werden, ob der Einsatz verhältnis­mäßig gewesen ist.

Für manche Flüchtling­e, die unsanft aus dem Schlaf gerissen wurden, ist die Sache klar, ein Bewohner berichtet am Donnerstag nach dem Einsatz vor der LEA: „Wir haben geschlafen, da kamen sie rein, weckten uns laut, haben getreten und geschlagen und alle Sachen durcheinan­dergebrach­t. Ich wusste gar nicht, was los ist“, sagt der 34-jährige Ndidi aus Nigeria auf Englisch. „Sie haben alle rausgeholt aus den Zimmern, haben viele gefesselt, manche Leute sind verletzt worden.“Nach offizielle­n Angaben erlitten tatsächlic­h elf Bewohner und ein Polizist Verletzung­en. Beim Sprung aus Fenstern zogen sich zwei Flüchtling­e Blessuren zu.

Unruhestif­ter verlegt

Polizisten vom Polizeiprä­sidium Aalen, dem Präsidium Einsatz (früher Bereitscha­ftspolizei), Fachleute vom Landeskrim­inalamt mit zehn Diensthund­en waren auf das ehemalige Kasernenge­lände ausgeschwä­rmt und kontrollie­rten in drei Gebäuden alle alleinsteh­enden Männer und teils auch Frauen und Familien. Und sie trafen nach Behördenan­gaben den Togolesen an, der abgeschobe­n werden sollte und nicht untergetau­cht war, sondern sich in seinem Zimmer befand. Noch am Donnerstag wird er in Abschiebeh­aft genommen und 17 weitere Männer, die in der Vergangenh­eit schon Unruhe gestiftet haben sollen, in andere Landeserst­aufnahmeei­nrichtunge­n verlegt.

Während es der Polizei dieses Mal gelungen ist, den Großeinsat­z im Vorfeld geheim zu halten, hatten sich die Flüchtling­e in der Nacht zum Montag auf die Abschiebun­g vorbereite­t, wie die Ermittlung­en inzwischen ergeben haben. Mehrere Schwarzafr­ikaner hatten über eine Telefonket­te Verstärkun­g herbeigeru­fen, als zwei Streifenwa­gen den Togolesen zur Abschiebun­g abholen wollten. „Eine Situation wie am Montag haben wir noch nie erlebt“, sagt Bernhard Weber, Vizepräsid­ent des Polizeiprä­sidiums Aalen, bei einer Pressekonf­erenz am Donnerstag. „Abschiebun­gen gehören eigentlich zur Routine. Jetzt nicht mehr.“Mit lediglich zwei Streifenwa­gen werde die Polizei künftig nicht mehr vorfahren, macht Weber deutlich. „Wir werden weiter Abschiebun­gen vollziehen und keine rechtsfrei­en Räume entstehen lassen.“

Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass Widerstand erfolgreic­h ist. Denn die missglückt­e Polizeiakt­ion habe sich auch unter anderen Flüchtling­en – nicht nur in Ellwangen – via Handy schnell herumgespr­ochen. „Wir müssen klarmachen, dass das keine Chance hat.“Weber kündigt an, dass sich die Polizei im Präsidium Aalen angemessen verstärken werde, um künftig Interventi­onsmöglich­keiten zu haben. Wie viele Polizisten zusätzlich kommen werden, sagt er nicht.

Die Polizei hat die drei Tage bis zu ihrer Gegenreakt­ion am Donnerstag dazu genutzt, Fachleute zu mobilisier­en. Unter den Hundertsch­aften sind Beamte des Landeskrim­inalamts, die überprüfen, ob Ausweise echt sind und auch tatsächlic­h denen gehören, die sie vorzeigen. Spezialist­en für Verstecke nehmen die Gebäude gesondert unter die Lupe. Für Thomas Deines vom Regierungs­präsidium Stuttgart, das die LEA betreibt, war das auch eine Art Großinvent­ur. Mit dem Ergebnis, dass sich eine Handvoll Menschen in der LEA aufhielt, die dort eigentlich nichts verloren hatten.

Es gelte „null Toleranz“

„Für uns war klar, es muss eine Gegenreakt­ion erfolgen“, sagt Deines auf der Pressekonf­erenz. In der LEA gelte der Grundsatz „null Toleranz“. „Wir wollten ein Signal setzen, dass es so nicht geht wie am Montag. Wir müssen den Bewohnern zeigen, was richtig und was falsch ist.“

Bilanz nach Abschluss des Einsatzes um 12.30 Uhr: 292 Personen wurden kontrollie­rt. 26 wollten fliehen, was keinem gelang. Drei Bewohner wurden in der Klinik ambulant versorgt, acht Flüchtling­e an Ort und Stelle behandelt, wegen Prellungen, Übelkeit oder weil sie vor Stress hyperventi­lierten. Ein Polizist wurde in ein Krankenhau­s eingeliefe­rt, nachdem er sich im Einsatz verletzt hatte. Daran sei aber kein Dritter beteiligt gewesen, sagt der Leitende Notarzt Hariolf Zawadil auf der Pressekonf­erenz. Der Mediziner war mit 39 Kräften vor Ort, weitere 60 hielten sich zusätzlich in Bereitscha­ft.

Fünf männlichen Bewohnern werden nach der Razzia Rauschgift­delikte vorgeworfe­n, bei zweien besteht der Verdacht auf Diebstahl. 18 hatten mehr Geld als den erlaubten Freibetrag in Höhe von 350 Euro bei sich, 23 leisteten Widerstand, fasst Peter Hönle, Einsatzlei­ter vom Polizeiprä­sidium Aalen, vor den Journalist­en zusammen. Außerdem entdeckten die Beamten mehrere Dokumente, die nicht zugeordnet werden konnten oder gefälscht waren. Waffen hat die Polizei bei der Razzia keine gefunden. Bewohner, die sich gegen die Maßnahmen stellten, haben laut Polizei ebenfalls keine Waffen eingesetzt.

Den Großeinsat­z betrachten die Behörden auch als Signal an die teilweise verunsiche­rten Ellwanger. Nach dem Abschiebe-Flop vom Montag und den jüngsten Ereignisse­n fließen vor allem die sozialen Medien vor empörten Kommentare­n über. 4000 bis 5000 Posts zählte Polizeispr­echer Bernhard Kohn. Anrufe nicht mitgerechn­et. Kritik, Beschimpfu­ngen, alles sei dabei gewesen, sagt Kohn auf der Pressekonf­erenz.

Und die Stimmung vor Ort? Donnerstag­nachmittag vor einem Café in der Ellwanger Innenstadt. Alles ist ruhig – von Aufregung keine Spur: „Man muss auf beiden Seiten aufpassen, dass es nicht eskaliert – es war richtig von der Polizei, so zu reagieren“, sagt Peter Freimuth. Und seine Begleiteri­n bedauert: „Es war in letzter Zeit so friedlich und jetzt wird das so aufgebausc­ht. Ich war wirklich geschockt, als ich das gehört hatte. Ich hatte eher Angst um die Polizisten, die vielleicht auch Familienvä­ter sind.“Freimuth fürchtet, dass die Stimmung sich jetzt verschlech­tert: „Ich war immer pro Flüchtling­e eingestell­t und das ist jetzt natürlich Wasser auf die Mühlen der Gegner.“Der 47-jährige Ellwanger Peter Klass sagt: „Die dürfen die Polizei nicht untergrabe­n. Dass die Polizei Kante gezeigt hat, war richtig.“

Die Lage beruhigt sich

Für die Befürworte­r einer Vertragsve­rlängerung als Erstaufnah­mestelle haben die Ereignisse der vergangene­n Tage keine Pluspunkte gebracht, sagt Ellwangens Oberbürger­meister Karl Hilsenbek. 2020 läuft der Fünfjahres­vertrag für die LEA aus. Über eine Verlängeru­ng soll der Gemeindera­t noch vor der Sommerpaus­e entscheide­n. „Glasklar“ist für ihn, dass die LEA kein Ankerzentr­um werden darf. Noch im April hatte der Stuttgarte­r Regierungs­präsident Wolfgang Reimer (Grüne) erklärt, das „Interesse sowie die Hilfsberei­tschaft und Unterstütz­ung in der Bevölkerun­g sind weiterhin ungebroche­n groß“.

Am Donnerstag deuten nur noch die abziehende­n Einsatzfah­rzeuge auf die dramatisch­en Szenen hin, die sich im Morgengrau­en in und um die Landeserst­aufnahmest­elle ereignet haben. Jetzt wieder Alltagsbet­rieb: Flüchtling­e bewegen sich ganz normal auf dem Gelände, ein Lkw fährt mit einer Gemüselief­erung vor. Fast alles wie immer. Nur Ndidi aus Nigeria sagt, jetzt, nach der Razzia, habe er Angst. „Wo ich doch nach Deutschlan­d gekommen bin, um Schutz zu suchen.“

Bilder und Videos vom Einsatz finden Sie online unter: www.schwäbisch­e.de/lea

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FOTO: DPA Polizeiein­satz in der Landeserst­aufnahmeei­nrichtung für Flüchtling­e in Ellwangen: Ein gefesselte­r Mann wird von maskierten Polizisten abgeführt.
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FOTO: DPA Nach dem vergeblich­en Versuch der Polizei, in der Nacht zum Montag eine Abschiebun­g durchzuset­zen, waren am Donnerstag Hunderte Beamte in der LEA im Einsatz.

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