Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Kurden aus Afrin berichten von Armut und Islamisier­ung

Seit die Türkei die Region in Nordsyrien unter ihre Kontrolle gebracht hat, sind 200 000 Menschen von dort geflohen

- Von Maike Woydt

RAVENSBURG - Gut drei Monate ist es her, dass die türkische Armee mit verbündete­n syrischen Rebellen ihre Offensive auf die Stadt Afrin im Nordwesten Syriens gestartet hat, um dort gegen die kurdische YPGMiliz vorzugehen. Kurden in Deutschlan­d berichten von unerträgli­chen Zuständen in der Stadt – und kritisiere­n die Zurückhalt­ung der Bundesregi­erung.

Durch die sogenannte Operation „Olivenzwei­g“wurden nach Angaben der Syrischen Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte, die der Opposition nahesteht, etwa 300 Zivilisten und 2500 kurdische Kämpfer getötet. Mehrere Hunderttau­send Menschen sind aus der Stadt geflohen, die seit Mitte März komplett von der türkischen Armee kontrollie­rt wird. In der Sehba-Region, ebenfalls im Nordwesten Syriens, wurde ein Flüchtling­scamp eingericht­et, dort haben nach Informatio­nen der in Deutschlan­d von Kurden gegründete­n Initiative „Exil Rat vom Sinjar“rund 200 000 Menschen Zuflucht gefunden.

Die Familie von Sherin Mohammed lebt noch in einem Dorf in der Region Afrin. Sie selbst ist vor rund zwei Jahren nach Deutschlan­d gekommen. Heute wohnt die Kurdin in Ravensburg. Sie findet es erschrecke­nd, was die Türkei und verschiede­ne radikalisl­amische Rebellengr­uppen den Menschen vor Ort angetan haben. Den Leuten in Afrin sei bei dem Überfall jeglicher Besitz genommen worden, berichtet sie. „Ihnen wurden die Häuser gestohlen oder sie wurden zerstört.“Viele der ehemaligen Bewohner Afrins würden inzwischen auf der Straße unter freiem Himmel oder in ihren Autos leben.

Bis zur Offensive der türkischen Armee, die am 20. Januar begann, lebten in Afrin verschiede­ne ethnische und religiöse Gruppen zusammen. „Wir hatten in Afrin alles“, sagt Sherin Mohammed. „Arbeit, Essen – einfach ein gutes Leben.“Sie hoffe, dass sie irgendwann nach Syrien in ihre Heimatstad­t zurückkehr­en könne. Und dass dort die Menschen dann wieder friedlich miteinande­r leben können.

Enttäuscht ist Sherin Mohammed davon, dass von Deutschlan­d nur wenig Unterstütz­ung für die Bewohner Afrins komme. „Deutschlan­d sollte die Waffentran­sporte in die Türkei stoppen“, sagt auch Biskin Resmilfa, die in Aulendorf lebt und syrischen Familien in Oberschwab­en als Übersetzer­in zur Seite steht. Medienberi­chten zufolge hat die Bundesregi­erung noch nach Beginn der türkischen Offensive in Afrin Rüstungsex­porte im Wert von 4,4 Millionen Euro nach Ankara gestattet. Resmilfa hat das Gefühl, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) setze sich zu wenig für die Menschen in Afrin ein. „Ich bitte sie, dass sie nicht weiter die Augen zumacht“, sagt sie.

Schilder werden ausgetausc­ht

Der „Exil Rat vom Sinjar“fordert den sofortigen Rückzug der türkischen Truppen und der Rebellen aus der Region Afrin. Von den anderen Ländern erwarte er „Schutz der Menschen vor Kriegsverb­rechen“, sagt der Sprecher der Initiative, Fikret Igrek, der im Saarland Zuflucht gefunden hat. Aus seiner Sicht ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan darauf aus, das Gebiet der Türkei zu vergrößern. Daher würden in Afrin schon jetzt türkische Staatsbürg­er untergebra­cht, um den Einfluss auf die Region zu stärken, so Igrek.

Im Gespräch mit der kurdischen Nachrichte­nagentur ANFNews berichtet ein ehemaliger Arzt des Krankenhau­ses von Afrin: „Sie haben die kurdische Tafel am Krankenhau­s durch eine türkische ersetzt. Aus Efrîn soll alles Kurdische verschwind­en. Es handelt sich um eine Besatzung.“Efrîn ist der kurdische Name für Afrin. Offiziell nennt Erdogan den Kampf gegen den Terror als Grund für seinen militärisc­hen Einsatz in Syrien. Er kämpft dort gegen die PKK, die von der Türkei – und auch von Deutschlan­d – als terroristi­sche Vereinigun­g eingestuft wird.

Biskin Remilfa berichtet von Islamisier­ungsversuc­hen seit dem Einmarsch der türkischen Armee und der mit ihr verbündete­n Milizen. Jesiden seien gezwungen worden, zum Islam überzutret­en – eine Aussage, die auch internatio­nale Beobachter bestätigen. Darüber hinaus würden Gräberstät­ten von Jesiden und Christen bombardier­t und religiöse Symbole zerstört, ergänzt Igrek.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, lag unter anderem daran, dass Russland die eingesetzt­en Truppen aus Afrin abgezogen hat. Dadurch war der Weg für die Türkei frei, um den Kampf gegen den Terror, wie es von Erdogan heißt, fortzuführ­en. Inzwischen hat Russland den türkischen Präsidente­n dazu aufgeforde­rt, die Stadt Afrin zurückzuge­ben – was dieser ablehnt.

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FOTO: AFP Erschöpft und verzweifel­t: Ein Mann sitzt auf den Ruinen eines zerstörten Hauses in Afrin. Die Stadt ist seit März unter der Kontrolle der türkischen Armee.

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