Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Tausende Kinder missbraucht
Ruf nach schärferen Ermittlungsmöglichkeiten
BERLIN (dpa/sz/ her) - Der Missbrauchsfall von Staufen ist die Spitze des Eisbergs: Zehntausende Kinder werden in Deutschland Opfer von Gewalttaten und sexuellem Missbrauch. 2017 registrierte die Polizei 4247 Kinder, die schwer misshandelt wurden (2016: 4237). 143 Kinder wurden getötet (2016: 133). Diese Zahlen stellten BKA-Chef Holger Münch und Kinderhilfe-Chef Rainer Becker in Berlin vor. 13 539 Kinder wurden Opfer von Vergewaltigungen und se- xueller Gewalt, 16 317 Fälle von Kinderpornografie wurden gezählt.
Johannes-Wilhelm Rörig, Regierungsbeauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, forderte am Dienstag schärfere Ermittlungsmöglichkeiten und eine gesetzliche Meldepflicht für Missbrauchs-Darstellungen im Internet. „Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung“, sagte er zur „Schwäbischen Zeitung“. „Datenschutz darf nicht vor Kinderschutz gehen.“
BERLIN - Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nimmt zu. Für den Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, JohannesWilhelm Rörig, ist klar, es muss dringend mehr geschehen. Den schwierigen Kampf gegen sexuelle Gewalt könne „niemand allein gewinnen“, sagt er im Gespräch mit Andreas Herholz.
Prügel, Missbrauch, Mord – wie kann man Kinder und Jugendliche besser schützen?
Im Bereich der allgemeinen und der sexuellen Gewalt gegen Kinder ist die Dimension immer noch enorm. Die Entwicklung ist mehr als besorgniserregend. Bei der Kinderund Jugendpornografie haben wir hohe Zuwachsraten. Bei Missbrauch an Minderjährigen wurden mehr als 13 000 Fälle im vergangenen Jahr registriert. Den schwierigen Kampf gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann niemand allein gewinnen. Nicht das Bundeskriminalamt, nicht die Landeskriminalämter und nicht die Jugendämter.
Was muss geschehen?
Wir brauchen endlich eine konzertierte Aktion für Kinderschutz und einen besseren Schutz vor sexueller Gewalt. Das Thema darf nicht nur beim Bundesfamilienministerium oder bei den Jugendministern der Länder abgeladen werden. Hier sind auch die Ressorts Innen, Finanzen und Justiz stark gefordert, sowohl auf der Landes- als auch auf der Bundesebene. Die Ermittlungsbehörden müssen personell und technisch besser ausgestattet werden. Auch die IT-Unternehmen müssen dringend mit eingebunden werden, etwa die Online-Anbieter und die der Chats.
Kinder und Jugendliche sind immer früher im Internet unterwegs. Wie kann man sie besser schützen?
Kinder und Jugendliche müssen von Anfang an von Eltern und Schule auf der Reise in die digitale Welt gut begleitet werden. Im Netz warten große Gefahren auf die Kinder. Es gibt immer mehr Pädosexuelle, die das Internet für ihre Jagd auf Kinder nutzen. Da muss es auch Regulierung geben. Wir brauchen eine Begleitung im Schulunterricht von der ersten bis zur letzten Klasse. Hier sind die Kultusminister der Länder und die Bundesbildungsministerin gefordert. Jugendliche müssen wissen, wenn sie mit 13 Sexfotos von sich machen und diese mit 14 versenden, dann haben sie Kinderpornografie weitergeleitet, auch wenn es sich um Bilder von sich selbst handelt, und es droht ein Ermittlungsverfahren. Es muss klar sein, dass die Digitalisierung nicht nur Chancen, sondern auch Risiken bringt.
Wie kommt man den Tätern im Netz auf die Spur?
Wir brauchen schärfere Ermittlungsmöglichkeiten und müssen alles daran setzen, dass die Täter entdeckt werden und sich nicht mehr sicher sein können. Gut, dass sich jetzt auch die Justizminister der Länder damit beschäftigen und den Ermittlern mehr Rechte einräumen wollen wie etwa den Einsatz von sogenannten Keuschheitsproben, echt aussehenden computergenerierten Bildern. Wir müssen auch neu über die Vorratsdatenspeicherung diskutieren. Oft ist die IP-Adresse im Internet die einzige Spur zum Täter. Wenn keine Verbindungsdaten gespeichert werden, gibt es schwere Ermittlungslücken. Mehr als 8000 Ermittlungsverfahren konnten im vergangenen Jahr nicht durchgeführt werden, weil keine Spur zum Täter geführt hat. Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung. Datenschutz darf nicht vor Kinderschutz gehen.
Der Fall eines neunjährigen Missbrauchsopfers in Staufen hat für Entsetzen gesorgt. Wie konnte es zu diesem jahrlangen Martyrium und dem Behördenversagen kommen?
Die Landesregierung muss die Versäumnisse und das Versagen im Fall des neunjährigen Jungen in Staufen vollständig aufklären. Ich erwarte einen aussagekräftigen Bericht. Das komplizierte Zusammenspiel von Jugendamt, Familiengericht, Polizei und Landeskriminalamt hat offenbar zu Fehlern geführt. Dass kein Verfahrensbevollmächtigter für den Jungen bestellt und der Junge nicht einmal angehört wurde, wirft viele Fragen auf. Von den Fehlern dort und den Konsequenzen kann man hoffentlich in ganz Deutschland lernen. Das darf nicht im Sand verlaufen.