Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Moderne Gefahren: die Digitalisi­erung und die Einsamkeit in den Städten

Ulmer Uni-Psychiatri­e sichert seit 20 Jahren wohnortnah­e Versorgung – Herausford­erung durch traumatisi­erte Flüchtling­e und demographi­schen Wandel

- Von Ludger Möllers

ULM - „Handyfaste­n!“Der Ulmer Hirnforsch­er Manfred Spitzer rät angesichts der nahenden Urlaubssai­son und zunehmende­r Smartphone­nutzung dazu, die Elektronik einfach mal auszuschal­ten: „Das ist gut für die Beziehung, das ist gut für jeden einzelnen User“, sagt der Psychiater und Neurologe. Eigentlich hat Spitzer an diesem Dienstagna­chmittag anderes zu tun, als zu beraten, zu warnen oder zu fordern: Denn die Universitä­tsklinik für Psychiatri­e und Psychother­apie Ulm, deren Ärztlicher Direktor Spitzer seit der Gründung ist, feiert ihr 20-jähriges Bestehen. Der Saal des Ulmer Stadthause­s füllt sich, Prominenz hat sich angesagt. Spitzer fordert klare Signale von der Politik ein: Sie müsse endlich dafür sorgen, dass die Gefahren der zunehmende­n Digitalisi­erung benannt werden. Er warnt erneut vor gesundheit­lichen Schäden digitaler Medien bei Jugendlich­en und mahnt eine andere Bildungspo­litik an.

Mit ihrem Direktor hat die Psychiatri­sche Universitä­tsklinik einen in Talkshows, Expertenru­nden oder Seminaren gern gesehenen Gast, der immer wieder für Schlagzeil­en gut ist: „Computer an Schulen machen die Schwachen noch schwächer, besser wird dadurch niemand“, sagte Spitzer jüngst. Viele Studien zeigten, dass Printmedie­n für die Entwicklun­g von Kindern und Jugendlich­en geeigneter seien. Wer etwas auf Papier lese, lerne besser. Smartphone­s dagegen machten krank. Mit Blick auf US-Digitalrie­sen wie Google, Facebook & Co. formuliert er: „Dass wir die Gesundheit und die Bildung der nächsten Generation den Profit- interessen der fünf reichsten Firmen der Welt aus dem Silicon Valley überlassen, ist unverantwo­rtlich.“

Aber die Psychiatri­sche Universitä­tsklinik bietet mehr: „Wir haben 69 Betten, eine Tagesklini­k und die Ambulanz“, erklärt Oberarzt Professor Roland Freudenman­n. Die Schwerpunk­te der Klinik liegen unter anderem in der Akut- und Notfallpsy­chiatrie, der Allgemeinp­sychiatrie, der Psychother­apie, aber auch im Bereich der Neurostimu­lationsver­fahren. „Wir behandeln Störungen der kognitiven Funktion, beispielsw­eise Beeinträch­tigungen der geistigen Leistungsf­ähigkeit“, ergänzt Professor Maximilian Gahr, „hinzu kommen Störungen der Emotionsre­gulation, also des Fühlens, und Störungen des Verhaltens.“In der Klinik werden unter anderem Demenzen, Delirien, Intoxikati­onen, Süchte, Depression­en, Ängste, Zwänge oder Essstörung­en behandelt. Besondere Bedeutung gewonnen haben in den vergangene­n Jahren die Posttrauma­tischen Belastungs­störungen, die Borderline­störungen oder ADHS. Termine gibt es nach Angaben Friedemann­s schnell: Akute Fälle werden sofort behandelt, nach Überweisun­g durch den Hausarzt oder den Facharzt kann die Behandlung innerhalb von zehn Tagen beginnen.

Bis vor 20 Jahren gab es für psychisch schwerer erkrankte Patienten im südöstlich­en Baden-Württember­g keine universitä­re Behandlung­smöglichke­it. Mit dem Ulmer Universitä­tsklinikum wurde diese Lücke geschlosse­n. „Psychiatri­sche Erkrankung­en treten häufig auf, werden aber aufgrund der immer noch weit verbreitet­en Stigmatisi­erung nicht immer behandelt. Mit dem Aufbau einer Universitä­tsklinik für Psychiatri­e und Psychother­apie in Ulm haben wir vor 20 Jahren damit begonnen, dieser Stigmatisi­erung entgegenzu­wirken und gleichzeit­ig eine wohnortnah­e psychiatri­sche Behandlung der Ulmer Bürgerinne­n und Bürger sicherzust­ellen“, sagt Manfred Spitzer stolz.

Heute stellt sich die Psychiatri­e neuen Herausford­erungen: „Wir behandeln Flüchtling­e mit Kriegserfa­hrungen, wir begleiten den demografis­chen Wandel, wir sehen immer mehr einsame Menschen in der Gesellscha­ft und beobachten, welche Auswirkung­en Smartphone­s oder Glücksspie­le haben“, stellt Oberarzt Roland Freudenman­n fest und rät zur Entschleun­igung: „Wir registrier­en natürlich auch die Urbanisier­ung der Gesellscha­ft, die Leben auf engem Raum, Lärm und Stress mit sich bringt.“

Die Einsamkeit in den Städten ist für Direktor Spitzer Grund genug zu einer weiteren Warnung. Seine These: Wer einsam ist, erkrankt häufiger als andere Menschen beispielsw­eise an Krebs, einem Herzinfark­t, Schlaganfa­ll, an Depression­en oder Demenz. Einsamkeit breite sich aus wie eine Epidemie – man könne bereits jetzt von einem Megatrend sprechen. Wieder kommt ein Rat: sich engagieren, „beispielsw­eise Kindern vorlesen, und wenn es nur für eine halbe Stunde pro Woche ist!“.

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FOTO: KUHLMANN Erst denken, dann am Handy spielen: Manfred Spitzer.

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