Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Alles scheint, wie es nicht ist
In Weingarten diskutieren Experten über Verschwörungstheorien und die Frage, ob und warum sie so gefährlich sind
WEINGARTEN - Eigentlich schade: Niemand trägt einen Aluhut an diesem Freitagabend, obwohl der große Saal im Tagungshaus Weingarten vor lauter Reden über Verschwörungstheorien nur so vibriert. Aber wie das eben oft so ist mit Podiumsdiskussionen: Die, über die gesprochen wird, sind gar nicht da. Dafür immerhin 66 Zuhörer, zu nicht unerheblichen Teilen Menschen, die in ihrem Alltag mit Verschwörungstheorien konfrontiert sind – zum Beispiel Lehrer. Die hoffen darauf, dass ihnen dieser Abend Antworten auf die Frage liefert, wie umzugehen ist mit kruden Verschwörungsvorstellungen, deren Verbreiter Widerspruch meistens nicht zum Nachdenken bringt, sondern ihren Glauben an ein groß angelegtes Komplott nur noch verstärkt. Was sagen zu arabischen Jungs im Unterricht, die im Brustton der Überzeugung ihre Judenfeindlichkeit mit einer weltumspannenden zionistischen Verschwörung erklären?
Auf dem Podium nehmen fünf in Sachen Verschwörungen mit allen Wassern gewaschene Menschen Platz. Die Diskussion ist Teil einer Tagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die sich wissenschaftlich mit diesem Gegenwartsphänomen auseinandersetzt. Doch wie Autor und Forscher Michael Butter gleich am Anfang sagt, sind Verschwörungstheorien schon immer Teil der menschlichen Vorstellungswelt gewesen. „Über Epochen hinweg waren Verschwörungstheorien gesellschaftlich anerkannt.“Selbst in der Aufklärung hätten sie ihren Platz gehabt, bevor sie irgendwann bis hinein in unsere jüngere Vergangenheit mehr oder weniger gesellschaftlich geächtet waren und ihre Verbreiter vom Großteil der Menschen nicht für voll genommen wurden. „Das hat sich in jüngerer Zeit verändert“, diagnostiziert Stefan Christoph, Politikwissenschaftler und Grünen-Politiker aus Bayern, der als Experte im Zusammenhang mit der Frage geladen ist, wie Politik mit Verschwörungstheorien umgehen sollte und wie die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Populismus und Verschwörungstheorien sind. Die Antwort liefert indes Historikerin Ute Caumanns: „Ich denke, da sind größere Schnittmengen vorhanden.“
Während der Diskussion – geleitet von Johannes Kuber, Fachbereichsleiter für Geschichte innerhalb der Akademie – fällt immer wieder der Name vor allem einer Partei: AfD. Ihre Anhänger seien besonders anfällig für Verschwörungstheorien. Außerordentlich beliebt: Die angebliche „Umvolkung“Deutschlands, also ein Plan von Angela Merkel, der vorsehe, die eigene Bevölkerung durch Muslime zu ersetzen und damit die BRD zu islamisieren. Darum die Grenzöffnung 2015. Deshalb die Probleme bei Abschiebungen, die nur vorgeschoben seien. Und warum das alles? „Weil die Deutschen keine richtigen Männer mehr seien, und das Land nicht mehr verteidigen könnten“, erklärt Butter Motive dieser Verschwörungstheorie. Außerdem bekämen Frauen zu wenige Kinder. „Das erklärt auch die Ablehnung gegenüber Menschen jenseits der Heterosexualität.“Noch eine abenteuerliche Theorie, die bei den Experten Erwähnung findet: die sogenannten Chemtrails. Die Anhänger dieser Verschwörungstheorie glauben, dass Kondensstreifen am Himmel die sichtbaren Spuren von Chemikalien sind, die die Regierung mit Flugzeugen ausbringen lässt, um das Wetter zu beeinflussen und einen künstlichen Klimawandel herbeizuführen.
Jan Rathje von der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin sagt: „Natürlich müssen wir alle unseren Widerspruch gegen solche Theorien einlegen.“Rathje ist in der Bildungsarbeit aktiv und weiß, wie schwierig es ist, jemanden mit Fakten von einer Überzeugung abzubringen, die der Verschwörungstheoretiker ja nicht belegen muss. Politiker Stefan Christoph zieht daraus wiederum den Schluss: „Wir als Wissenschaftler müssen die Welt besser erklären.“Bildung sei ein Mittel, das gegen den Glauben an Verschwörungstheorien helfe – erwiesen sei das allerdings nicht zweifelsfrei, wirft Michael Butter ein. „Gerade auch Ingenieure sind da anfällig“, sagt der Forscher mit Augenzwinkern, der das Buch „Nichts ist, wie es scheint“geschrieben hat. Insbesondere weil manche – auch hochqualifizierte – Berufe ein mechanistisches Weltbild mit dem Prinzip Ursache und Wirkung hätten, sei die Bereitschaft größer zu glauben, dass „alles irgendwie mit allem“zusammenhängt. Darüber hinaus kennzeichne die Annahme typischerweise Verschwörungstheorien, dass eine unsichtbare höhere Macht alles, was gerade passiert, von langer Hand geplant hat. Bei Verschwörungstheorien ist für Zufälle jedenfalls kein Platz.
Aber sind Verschwörungstheorien überhaupt gefährlich? Lohnt es sich, ein solches Aufhebens darum zu machen? Und gibt es nicht auch tatsächliche Verschwörungen, die damit den Glauben an Verschwörungstheorien nähren und nach sich ziehen? „Natürlich hat es auch reale Verschwörungen gegeben“, sagt Historikerin Ute Caumanns, was aber unsägliche Komplott-Fantasien nicht rechtfertige. „Wirklich gefährlich wird es dann, wenn es anderen Menschen schadet“, glaubt Stefan Christoph und sagt: „Verschwörungstheorien sind eine Kriegserklärung an die faktenbasierten Wissenschaften.“Ein Argument, Verschwörungstheorien nicht zu verharmlosen, liefert dann auch Michael Butter noch: „Man muss sich nicht mit seinen eigenen Ressentiments und dem eigenen Rassismus auseinandersetzen, wenn man eine Verschwörungstheorie unterstellen kann.“Das gelte zum Beispiel in Bezug auf Flüchtlinge, die man anders betrachte, wenn sie nicht als einzelne Individuen erschienen, sondern als Teil der beschriebenen „Umvolkungs“-Theorie. Sie entmenschlicht damit den Einzelnen und macht es leichter, ihn entgegen der Werte wie christliche Mitmenschlichkeit abzulehnen.
Die, um die es geht, fehlen
Nach der bisweilen recht akademisch daherkommenden Expertendebatte, die einen leibhaftigen Verschwörungstheoretiker noch schmerzhafter vermissen lässt, ist das Publikum dran. Nachdem zwei Bildungsexperten um praktischen Rat im Umgang mit verschwörerischen Behauptungen den etwas allgemein klingenden Hinweis von Jan Rathje erhalten, sich beraten zu lassen, meldet sich dann doch noch ein Rentner. Der zumindest gibt zu, manchem Verschwörungstheoretiker schon zugehört zu haben. Und dafür hat er auch eine Erklärung: „Uns fehlt das Vertrauen in die Politik!“Bezogen auf die Grünen konkretisiert der 80-Jährige: „Ich habe der Partei vertraut, als noch alle mit sich gerungen haben und es immer Streit gab.“Dann seien die Fischers und Trittins aufgetaucht und hätten die Partei gleichgeschaltet. „Seit dem ist das Vertrauen weg.“Experte Butter will daraufhin von dem Herrn wissen: „Was müsste passieren, damit sich das wieder ändert?“Darauf weiß der Rentner keine konkrete Antwort, sondern bringt das Beispiel Schweiz ins Spiel, wo die Menschen durch die Tradition der direkten Demokratie ein anderes, selbstbewussteres Verhältnis zu Staat und Politik hätten.
Und während sich draußen vor den Fenstern der Weingartener Abendhimmel im leuchtenden Blau präsentiert – geschmückt von vereinzelten Kondensstreifen, die im Saal aber niemanden ernsthaft beunruhigen – vermischen sich Zuhörer und Wissenschaftler zu Gesprächsrunden bei Bier und Apfelschorle. „Sehr interessant“, „Ich habe viel Neues erfahren“, heißt es allenthalben. Und doch schleicht sich das Gefühl ein, dass auch eine Podiumsdiskussion hochgelehrter Menschen noch mehr Relevanz bekommt, wenn sie den Mut hat, sich zumindest mit einem waschechten Verschwörungstheoretiker in ihrer Mitte auseinanderzusetzen.
„Wir als Wissenschaftler müssen die Welt besser erklären.“Politikwissenschaftler Stefan Christoph über Strategien gegen Verschwörungstheorien