Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Vom Polizisten zum Geburtshelfer
Frau bringt Kind auf Gleis 2 am Ulmer Bahnhof zur Welt – Oberkommissar steht ihr bei
ULM - Es war wahrlich kein alltäglicher Einsatz für den Ulmer Polizeioberkommissar Bernd Wachter. Denn statt wie für gewöhnlich bei Verbrechern die Handschellen klicken zu lassen, hielt er am Sonntagabend einer gebärenden Mutter das Händchen. Doch das nicht im Kreißsaal der Ulmer Uniklinik, sondern am Ulmer Hauptbahnhof.
Genauer gesagt auf Gleis 2. Dort, wo sonst Geschäftsleute und Studenten in den ICE in Richtung München einsteigen. „Das ist natürlich schon brutal und ungewohnt, wenn du einer fremden Frau bei der Geburt die Hand hältst“, erzählt der 53-Jährige jetzt im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Zusammen mit einem Kollegen hatte Wachter seine Nachtschicht am Bundespolizeirevier im Ulmer Hauptbahnhof gerade erst begonnen. Sie wären eigentlich für einen Streifendienst eingeteilt gewesen, erzählt Wachter. Doch dann sei gegen 18.15 Uhr ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn zu ihnen geeilt mit der Information: Auf Gleis 2 bringt gerade eine Frau ein Kind zur Welt.
Eine Nachricht, die vermutlich manch jungen Mann aus der Ruhe gebracht hätte. Doch nicht Polizeioberkommissar Wachter, der schon seit 1990 im Revier in Ulm für Recht und Ordnung sorgt. Und auch wenn der Einsatz für Wachter „nicht alltäglich“war, einmalig war er nicht. Vor Jahren habe er Ähnliches schon einmal erlebt. Allerdings nicht auf dem Bahnsteig, sondern in einem Zug von Neu-Ulm nach Ulm. Auch hier kam ein Kind zur Welt.
Ausgestattet mit etwas festeren Papierdecken seien er und sein Kollege am Sonntagabend über die Fußgängerunterführung hinauf zum Gleis gerannt. „Und wir sahen die Frau gleich dort sitzen auf der ersten Sitzmöglichkeit“, erzählt Wachter. Neben der zu diesem Zeitpunkt noch hochschwangeren 29-Jährigen aus Kamerun standen ihre drei weiteren Kinder im Alter von ein, drei und fünf Jahren sowie eine Mitreisende – zum Glück: „Die Frau sprach nur Französisch“, erzählt Wachter. Angehörige, Verwandte oder Freunde waren nicht anwesend. Doch über die Mitreisende hätten sein Kollege und er sich mit der gebärenden Mutter immerhin ein bisschen verständigen können. „Sie sagte uns, dass die Wehen schon eingesetzt hätten“, sagt Wachter. Sie entschieden deshalb, die Frau, die mit ihren Kindern offenbar aus Straßburg nach Ulm gereist war, erst einmal dort sitzen zu lassen.
„Doch irgendwann ist dann die Fruchtblase geplatzt“, so der Polizeioberkommissar weiter: „Jetzt mussten wir handeln.“Sie legten die Frau auf den Bahnsteig, befreiten sie von den Kleidern.
Doch noch kurz bevor es so richtig losging, eilte zur „Wahnsinnserleichterung“der beiden Polizeibeamten das Rettungsteam herbei und übernahm. „Aber sie haben es nicht mal mehr geschafft, die Frau auf die Trage zu legen“, so Wachter weiter: „Nach zwei oder drei Minuten war alles vorbei.“
Einen kurzen Schockmoment gab es aber noch. Das Kind hatte kurz nach der Entbindung nicht geschrien. Doch die Sanitäter konnten schnell Entwarnung geben: alles in Ordnung. Mutter und Tochter sind nach Angaben der Bundespolizei Baden-Württemberg auch zwei Tage danach wohl auf und ruhen sich in der Neu-Ulmer Donauklinik aus.
Allerdings war der Einsatz für Bernd Wachter damit noch nicht zu Ende. Während die Mutter ins Krankenhaus gebracht wurde, kümmerte er sich um die Kinder. Anfangs hätten sie geweint, weil die Mutter weg war. Die Mitreisende habe ihnen aber die Lage nochmals auf Französisch erklärt. Und als der erste Schock verdaut war, habe die Fünfjährige auch wieder ein paar Wörter Deutsch gesprochen, so Wachter, der sich Stunde für Stunde ein Platz in den Herzen der Kids verschaffte: „Wir haben Papierflieger gebastelt, Häuser gemacht und sie haben mein Vesper gegessen.“
Wohl auch ein Grund, warum er sich in ein paar Wochen wieder bei der Frau melden möchte, um zu erfragen, wie es ihr gehe. Normalerweise mache er das nicht, aber bei „so einer Geburt“wolle der Polizist schon wissen, ob alles gut ist.
„Das ist natürlich schon brutal und ungewohnt, wenn du einer fremden Frau bei der Geburt die Hand hältst.“Bernd Wachter über die Ausnahmesituation am Bahnhof