Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Neuer Berlinale-Chef

Carlo Chatrian aus Locarno soll Kosslick beerben

- Von Rüdiger Suchsland

BERLIN - Plötzlich ging alles ganz schnell. Nach einer Hängeparti­e, die über ein Jahr andauerte, mit diversen verstriche­nen offizielle­n wie inoffiziel­len Fristen und nach Gesprächen mit über 40 Kandidaten lud das Kulturmini­sterium (BKM) am Dienstagmi­ttag in Berlin zu einer Pressekonf­erenz: Am kommenden Freitag werde bekanntgeg­eben, wer im nächsten Frühjahr die Nachfolge des scheidende­n Berlinale-Chefs Dieter Kosslick antreten wird.

Doch bereits am gleichen Abend meldete die Berliner „BZ“einen Namen, und im Minutentak­t zog die Konkurrenz nach, bald auch die internatio­nale Fachpresse. Und am Mittwoch bestätigte­n es auf Nachfrage jene „informiert­en Kreise“, die sich nicht offiziell zitieren lassen, auf deren Auskunft aber Verlass ist: Der 46-jährige Italiener Carlo Chatrian, seit 2012 Leiter der Filmfestsp­iele von Locarno, wird der neue künstleris­che Leiter der Berlinale. Chatrian wird damit der wichtigere Teil einer Doppelspit­ze, auf die die vielfältig­en Aufgaben Dieter Kosslicks in Zukunft aufgeteilt werden. Den kaufmännis­chen Teil der Direktion soll eine Frau übernehmen, deren Name am Freitag bekanntgeg­eben wird. Dem Vernehmen nach handelt es sich allerdings nicht um einen der Namen, die in den letzten Monaten gehandelt wurden. Es sei „eine Überraschu­ng“, so die Ansage.

Die Entscheidu­ng für eine Doppelspit­ze ist überzeugen­d: Die Zeiten der großen Zampanos und ihrer One-Man-Shows à la Kosslick sind schon lange vorbei. Kein großes A-Filmfestiv­al außer Berlin wird heute von nur einer Person geführt. Kein Mensch kann einen derart großen, weitverzwe­igten Apparat wie die Berlinale kontrollie­ren, gleichzeit­ig über 1000 Filme sichten und überdies noch Kontakte zur weltweiten Filmszene pflegen. Eine Aufteilung in die kuratorisc­he Programmve­rantwortun­g und in die kaufmännis­che Geschäftsf­ührung ist daher einleuchte­nd.

Meister der Balance

Ebenso überzeugt die Entscheidu­ng für die Person Chatrian. Mit dem Italiener hat nun auch die Berlinale endlich das, was alle anderen großen europäisch­en Festivals schon lange haben: einen echten Cinephilen an der Spitze, einen Direktor, der als Filmwissen­schaftler ausgebilde­t wurde und der als Autor und Filmhistor­iker gearbeitet hat.

Unter den großen Festivals der Welt ist Locarno der Berlinale am ähnlichste­n. Mit 300 Filmen gibt es auch hier ein bisschen zu viele Filme und Sektionen. Eine Verschlank­ung wäre wünschensw­ert. Unabhängig davon hat Chatrian schon bewiesen, dass er den Spagat zwischen zarter Filmkunst und grobem Mainstream spielend bewältigt. Mit Locarno hat Berlin zudem schon früher gute Erfahrunge­n gemacht: Der beste und erfolgreic­hste Direktor der Berlinale-Geschichte, der Schweizer Moritz de Hadeln (Leiter von 1980-2001), war zuvor ebenfalls Direktor von Locarno.

Nun ist Berlin bekanntlic­h ein sehr spezielles, schwierige­s Pflaster und kulturpoli­tisch vermintes Terrain. Man denke nur an die jüngsten Pleiten um Volksbühne­n-Chef Chris Dercon, die Gestaltung des Humboldtfo­rums und die schwierige Nachfolge der Filmschule DFFB. Doch auch davor dürfte dem aus dem norditalie­nischen Turin stammenden Chatrian nicht bange werden. „Wer mit der Tessiner TourismusM­afia zurechtkom­mt“, so ein langjährig­er Beobachter, „wird auch im Berliner Kultursump­f nicht untergehen.“

Im Gegenteil könnte es für Chatrian zum Vorteil werden, dass er von außen kommt. Denn in der deutschen Filmszene hat er keine Feinde, aber auch keine falschen Freunde, denen er irgendetwa­s schuldig ist. Das gleiche gilt auch für die Berlinale selbst, wo unter Kosslick knapp zwei Jahrzehnte lang fröhlich die Strukturen erstarrten. Chatrian wird nicht darum herumkomme­n, unbequeme Entscheidu­ngen zu treffen, sprich liebgeword­ene Schrebergä­rtchen zu schließen und Personen auszutausc­hen.

Am schwierigs­ten dürfte es werden, die provinziel­le, notorisch fremdenske­ptische Berliner Medienland­schaft auf seine Seite zu bringen. Viele Hauptstadt­blätter sind Kosslick seit Jahren in inniger Medienpart­nerschaft verbunden und tun sich schwer mit einer manchmal auch kritischen Berichters­tattung über die Berlinale. Alles was anders sein wird als unter dem Showman mit dem roten Schal dürfte erst Mal misstrauis­ch beäugt werden. Umso mehr darf man Chatrian eine faire Chance wünschen.

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FOTO: DPA
 ?? FOTO: DPA ?? Carlo Chatrian leitet seit sechs Jahren die Filmfestsp­iele in Locarno. Nun wird er mit einem noch zu benennende­n kaufmännis­chen Geschäftsf­ührer zusammen die Berlinale leiten.
FOTO: DPA Carlo Chatrian leitet seit sechs Jahren die Filmfestsp­iele in Locarno. Nun wird er mit einem noch zu benennende­n kaufmännis­chen Geschäftsf­ührer zusammen die Berlinale leiten.

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