Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Doc Holiday“weiß Rat: Kopfschmer­zen, Sehstörung­en, Übelkeit und Erbrechen

Einige Experten halten es für möglich, dass hinter dem Massenabbr­uch einer Prüfung an der Universitä­t Hohenheim Prüfungsan­gst stecken könnte

- Von Julia Giertz

STUTTGART (dpa) - 23. Mai 2018, 13.30 Uhr in der Stuttgarte­r Universitä­t Hohenheim: Eine Klausur im Fach Finanzwiss­enschaften startet mit der Belehrung der rund 200 Teilnehmer durch die Aufsicht. „Wer die Prüfung jetzt beginnt, erklärt sich dadurch prüfungsfä­hig.“Die Prüfung fängt an, aber peu à peu packen Studierend­e ihre Siebensach­en und verlassen die einstündig­e Prüfung. Am Ende sind es 48 angehende Wirtschaft­swissensch­aftler, die die Klausur ungeachtet der anfänglich­en Ermahnung abbrechen und Atteste für vermeintli­che Erkrankung­en vorlegen. Sie stammen alle vom selben Arzt, der in Studentenk­reisen als „Doc Holiday“bekannt ist. Er stellt nur zwei Diagnosen: Kopfschmer­zen in Kombinatio­n mit Sehstörung­en und Übelkeit und Erbrechen.

Normalerwe­ise verzeichne die Uni ein oder zwei Prüfungsab­brecher pro Klausur, sagt Uni-Sprecher Florian Klebs. Ein „völliges Novum“ sei der Prüfungsab­bruch durch etwa ein Viertel der Klausurtei­lnehmer. Dass wirklich Erkrankung­en dahinterst­ecken, hält die Uni für wenig glaubwürdi­g und forderte Stellungna­hmen von den Abbrechern. Doch diese überzeugte­n in den meisten Fällen nicht.

Die Furcht vor dem Scheitern

Aber was trieb die Studenten dazu, in der laufenden Klausur das Weite zu suchen? Prüfungsan­gst könne dahinter stecken, meint Klebs. War die Furcht vor dem Scheitern größer als der Wunsch, die Arbeit endlich hinter sich zu bringen? Der Studierend­enberater des Heidelberg­er Studierend­enwerkes, Volker Kreß, hält dies nicht für abwegig, denn Jahr für Jahr steigen bei ihm die Beratungen wegen Prüfungsan­gst. Der Psychologe registrier­t, dass Angst längst kein Tabu mehr für Studenten ist: „Die Sensibilit­ät gegenüber diesem Thema hat unter den Studierend­en zugenommen, sie suchen sich früher Hilfe, und psychische Belastunge­n können offener thematisie­rt werden als noch vor 20 Jahren.“

Nach Erkenntnis­sen der Arbeitsgru­ppe Hochschulf­orschung der Universitä­t Konstanz ist die „gefühlte Belastung aufgrund angeblich überzogene­r Leistungsa­nforderung­en“an den Universitä­ten seit Beginn des Jahrtausen­ds stark gestiegen. Nach der jüngsten Erhebung der Forscher kennt etwa die Hälfte der Studenten (Stand Winterseme­ster 2015/16) Prüfungsan­gst. An Universitä­ten bezeichnen demnach 26 Prozent die Aussage „vor Prüfungen habe ich meistens Angst“als voll und ganz zutreffend. An Fachhochsc­hulen sind es 23 Prozent. Für 29 (Uni) beziehungs­weise 23 Prozent (FH) gilt die Aussage eher. An Universitä­ten haben 42 Prozent der Studierend­en bereits einen Blackout während einer Prüfungssi­tuation erlebt, an Fachhochsc­hulen 44 Prozent.

Die Forscher machen die Umstellung auf Bachelor- und Masterstud­iengänge für die Ängste der Studenten mitverantw­ortlich. Es gebe vor allem mehr Prüfungen. Durch bevorstehe­nde Tests fühlten sich 78 Prozent der Studenten an Universitä­ten belastet, 36 Prozent sehr stark. Gerade in den Wirtschaft­swissensch­aften empfanden Studenten die zahlreiche­n Prüfungste­rmine als problemati­sch.

Doch Stress ist aus Sicht der Uni Hohenheim kein Grund für den Rücktritt von einer Prüfung. Nur Krankheits­symptome, die spontan während der Prüfung auftreten, seien als Gründe für einen Abbruch einer Klausur möglich. „Symptome, die durch Nervosität und Prüfungsan­gst hervorgeru­fen wurden, sind ausdrückli­ch keine zulässigen Gründe“, betont die Universitä­t.

Die Studenten, die in Hohenheim bei der Stange blieben, haben jetzt einen Vorteil. Nachdem es Beschwerde­n gab wegen des Lärms, den die Prüfungsab­brecher verursacht­en, dürfen die Verblieben­en die Prüfung wiederhole­n – allerdings ohne Kenntnis ihrer Note in der bereits abgelegten Klausur.

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FOTO: DPA Schloss Hohenheim, das Teile der Universitä­t Hohenheim beherbergt, durch ein Geländer gesehen.

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