Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ziemlich viel Verkehr

Carl Sternheims „Die Hose“am Landesthea­ter Tübingen

- Von Jürgen Berger

TÜBINGEN - Er hatte die heuchleris­che Moral eines neuen Zeitalters im Blick. Und er war ein genauer Beobachter der gesellscha­ftlichen Veränderun­gen rund um die Zeitenwend­e des vorletzten Jahrhunder­twechsels: In Tübingen hat der griechisch­e Schauspiel­er und Regisseur Akillas Karazissis Sternheims bürgerlich­es Lustspiel nun inszeniert, als sei es die expression­istische Pilotfolge einer Netflix-Staffel.

Als Carl Sternheim partout wollte, dass die Gattin eines wilhelmini­schen Beamten auf offener Straße ihre Hose verliert, wurde das als derart skandalös empfunden, dass 1911 die Uraufführu­ng der Bürgersati­re „aus Gründen der Sittlichke­it“zunächst nicht gespielt werden durfte. Angeordnet hatte das Berlins Polizeiprä­sident Traugott von Jagow. Betroffen war Max Reinhardts Inszenieru­ng am Berliner Theater. Vordergrün­dig ging es um das Reizwort „Hose“, tatsächlic­h aber wohl darum, dass Sternheim gnadenlos vorführte, wie triebgeste­uert Spießbürge­r in den eigenen vier Wänden sein können. Allen voran Theobald Maske, der um seine lebenslang­e Verbeamtun­g fürchtet und der Gattin hinterher zetert, wie ihr das mit der Hose nur passieren konnte.

Der Mann ist aber auch derart geldgierig, dass er in seiner gutbürgerl­ichen Wohnung gleich zwei Untermiete­r aufnimmt, wissend, dass beide scharf auf seine Gattin sind. Scarron (Daniel Tille), ein snobistisc­her Schönling, hat gute Karten bei Luise. Mit Mandelstam (Raphael Westermeie­r), dem jüdischen Friseur, will sie nichts zu tun haben, er dafür um so mehr mit ihr. Dann wäre da noch Fräulein Deuter (Sabine Weithöner), die Luises One-Day-Stand mit Scarron generalsta­bsmäßig plant und ihrerseits scharf auf den Hausherrn ist. Das wiederum beruht auf Gegenseiti­gkeit und hat ziemlich viel Verkehr im Hause zur Folge. Hosen gehen runter, Röcke fliegen hoch.

Man könnte das als enthemmten Hasch-mich-Boulevard inszeniere­n. In Tübingen, wo Karazissis Sternheims bürgerlich­es Lustspiel lustvoll in einem zeitlosen Raum platziert, werden die Niederunge­n des sexuellen Begehrens allerdings nicht gezeigt. Es geht um mehr. Karazissis inszeniert die seelischen Abgründe hinter der Maske bürgerlich­er Wohlanstän­digkeit. Und er legt Wert darauf, dass die strenge Wilhelmini­sche Epoche auch eine Zeit des blühenden Expression­ismus war, in der alles in Richtung einer farbigen Darstellba­rkeit von Innenwelte­n und Befindlich­keiten drängte. Kathrin Krumbein (Bühne und Kostüme) hat zu diesem Zweck ein bonbonfarb­enes Interieur gebaut, in dem lediglich die Küchenzeil­e spartanisc­h wirkt.

Raubtiere unter sich

Jennifer Kornprobst gibt der Luise die Anmutung einer naiven Durchtrieb­enheit. Mal guckt sie wie ein frisch geborenes Baby, dann blickt sie dem Schnösel Scarron derart lüstern hinterher, dass klar ist: Das mit der Hose auf der Straße war nur ein Vorspiel. Madame Maske könnte ein Opfer ihres Berufsbeam­tengatten sein, spielt aber ihr eigenes Spiel. Hier ist jede und jeder des anderen Raubtier. Patrick Schnicke etwa leuchtet eine Seite des Hausherrn aus, die alles andere als nett ist. In Tübingen ist Sternheims Staatsdien­er ein sadistisch­er Patron und bösartiger Regisseur häuslicher Spielchen, der alle manipulier­t. Vor allem Herrn Mandelstam führt er derart vor, wie das sonst nur pubertiere­nde Jungs tun. Der gute Theobald, so viel ist klar, würde ohne mit der Wimper zu zucken auch den Zuhälter der Gattin geben, machten die Herren Scarron und Mandelstam nur endlich ein Angebot.

Man könnte meinen, Karazissis habe die schwäbisch­e Pilotfolge einer expression­istischen Netflix-Staffel inszeniert. Herr Maske ist der Chef einer familiären Staatshold­ing, in der alles kapitalisi­ert wird, was nicht bei drei in den Neonsträng­en hängt. Daheim bei den Maskes ist ein Ekel unterwegs, vor dem man tatsächlic­h Angst haben sollte und das am Ende ankündigt, die beiden Untermiete­r hätten die Haushaltsk­asse gut gefüllt. Endlich könne er verantwort­en, der Luise „ein Kind zu machen“. Nicht auszudenke­n, was der bösartige Lüstling dem Nachwuchs antun wird, hat Luise endlich entbunden. Das allerdings wäre endgültig kein bürgerlich­es Lustspiel mehr.

Weitere Vorstellun­gen: 4. und 21. Juli. Karten unter 07071/ 159 249 und kasse@landesthea­ter-tuebingen.de.

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FOTO: LANDESTHEA­TER TÜBINGEN Der Hausherr (Patrick Schnicke) will dem Fräulein Deuter (Sabine Weithöner) an die Wäsche.

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