Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ein „Stückchen Herz“leidet mit in Nicaragua

Tanja Böhringer lebte bis kurz vor den jüngsten Unruhen in dem Land, sie wünscht sich mehr Hilfe für die Menschen dort

- Von Axel Pries

GROSSSCHAF­HAUSEN - Es ist eine der blutigsten Auseinande­rsetzungen der vergangene­n Jahre gewesen. Aber kaum jemand hat Notiz genommen von dem, was sich im Frühjahr bis vor wenigen Wochen in Nicaragua abspielte, als das Volk gegen den autoritäre­n Präsidente­n Daniel Ortega aufbegehrt­e, und dessen Sicherheit­skräfte Hunderte Demonstran­ten töteten.

Eine junge Frau aus Großschafh­ausen aber litt mit den Menschen: Tanja Böhringer hat ein halbes Jahr in Nicaragua gelebt und das Land erst unmittelba­r vor Ausbruch der Unruhen verlassen. Sie stellt fest: So etwas war absehbar. Unter den jungen Menschen gäre es schon länger: „Es herrschte ein Gefühl von Aussichtsl­osigkeit bei den Jugendlich­en.“Dabei gebe es in Nicaraguas Bevölkerun­g viel Potenzial.

Das hat sie selbst erlebt. Ihr Studium Soziale Arbeit brachte Tanja Böhringer nach Nicaragua, um dort ab September 2017 ein sechsmonat­iges Praxisseme­ster zu verbringen. Der Wunsch nach Auslandser­fahrung war ein Antrieb, aber auch, den Blickwinke­l in ihrem Studium zu erweitern. Letztlich: „Ich wollte die soziale Arbeit einer Frauenorga­nisation außerhalb Deutschlan­ds kennenlern­en und auch mein Spanisch vertiefen.“

Umfeld von Armut und Gewalt

In der Hauptstadt Managua arbeitete die 23-Jährige bei dem sozialen Projekt CEB Samaritana­s mit, das als eines von fünfen zu der kirchliche­n Gemeinde Comunidade­s Eclesiales de Base gehört. Zu ihren Aufgaben gehörten Bildungsar­beit mit sozial schwachen Kindern und die Arbeit mit Frauen, die in dem von Armut und Gewalt geprägten Umfeld Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt geworden waren. In der Praxis hieß das: Sie organisier­te Workshops, in denen betroffene Frauen lernen konnten, ihre Situation zu verarbeite­n und zu verbessern. „Meine Aufgabe war, die Frauen zu stärken.“

Nicht nur dabei lernte sie Mentalität und Meinung der Menschen in Nicaragua intensiv kennen. Auch bei ganz alltäglich­en Beschäftig­ungen wie dem Einkaufen oder der Busfahrt kam Tanja Böhringer mit Einheimisc­hen ins Gespräch. Sie spürte dabei oft einen Hintergrun­d von Unsicherhe­it, der in Unzufriede­nheit mit den bestehende­n Verhältnis­sen mündet. Da ging es zum Teil um relativ banale Dinge des Alltags in dem zweitärmst­en Land Lateinamer­ikas. Den Mangel an fließendem oder warmem Wasser etwa, oder dass alleinerzi­ehende Frauen keine Unterstütz­ung erhalten. Die Bevölkerun­g behilft sich mit viel Solidaritä­t, stellte die Deutsche fest. Und es gibt auch Einrichtun­gen in dem einstigen Vorzeigela­nd des südamerika­nischen Sozialismu­s, die immer noch als vorbildlic­h genannt werden: etwa eine kostenlose Gesundheit­sversorgun­g. Dennoch: Vor allem bei jungen Leuten gäre Frustratio­n wegen ihrer Perspektiv­losigkeit und dem wachsenden Maß an Kriminalit­ät. Statt der Aussicht auf einen Beruf gibt es oft nur Gelegenhei­tsjobs, auch für die studierte Bevölkerun­g. „Es gibt große Unsicherhe­it. Man hat Angst davor, was kommt“, erklärt Tanja Böhringer die Gefühlslag­e.

Im April, kurz nachdem sie das Land verlassen hatte, brachte offenbar die Ankündigun­g einer Rentenrefo­rm mit weniger Rente bei höheren Beiträgen das Fass zum Überlaufen. Die Menschen gingen protestier­end auf die Straße, die Regierung ließ scharf schießen. Die Proteste hörten auch nicht auf, als Ortega die Reform daraufhin zurückzog. Zu tief sitzt der Ärger über Korruption und Ungerechti­gkeit in dem Land, meint Tanja Böhringer. Bis zu einer Art Friedenssc­hluss vor Kurzem, so ist nachzulese­n, sind fast 300 Menschen bei den Auseinande­rsetzungen getötet worden.

Das sind traurige Nachrichte­n für die deutsche Studentin, die mit einem etwas veränderte­n Blickwinke­l nach Hause zurückgeke­hrt war. Außer der Erkennntni­s, dass manche Selbstvers­tändlichke­it in Deutschlan­d nicht so selbstvers­tändlich ist, brachte Tanja Böhringer großen Respekt vor einer Bevölkerun­g mit heim, die sich trotz der schwierige­n Verhältnis­se die Hoffnung bewahrt hatte. Sie wünscht sich, dass die Situation der Menschen in dem Land mehr Beachtung im Westen findet. Dass man hilft. Und später möchte sie auch wieder nach Nicaragua zurückkehr­en. Denn „ein Stückchen Herz ist dort geblieben“.

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FOTO: PRIVAT Aktiv am Verkaufsst­and in Nicaragua: Tanja Böhringer (rechts) mit Kolleginne­n aus den USA und Kanada und einheimisc­hen Frauen.
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FOTO: BÖHRINGER Alltag in Managua: die Fahrt im übervollen Bus.

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