Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ulm wirbt in aller Welt um kluge Köpfe

Viel kleiner zwar, aber kaum weniger internatio­nal als New York: In Ulm leben Menschen aus 147 Nationen

- Von Thomas Burmeister

ULM - Stimmen aus dem Armaturenb­rett: „Sie haben Ihr Ziel erreicht, es liegt rechts.“Oder: „Sie haben eine Mitteilung, soll ich sie vorlesen?“Und: „Sie nähern sich einem Stau, soll ich eine Ausweichro­ute berechnen?“Navigieren, Gefahren erkennen, per SMS oder WhatsApp kommunizie­ren – und eines Tages sogar autonomes Fahren. „Für all das wird Intelligen­z im Auto immer wichtiger“, sagt der Brasiliane­r Helio Chissini de Castro. „Dafür bin nach Ulm gegangen – und ich habe es nie bereut. Die Stadt hat schöne Traditione­n und ist zugleich modern, sie macht Zugewander­ten das Eingewöhne­n leicht.“

Der 44-Jährige hat einen der gefragtest­en Berufe der Welt. Er ist Software-Entwickler, spezialisi­ert auf künstliche Intelligen­z. In São Paulo hat er für den US-Softwarehe­rsteller Red Hat gearbeitet als vor ein paar Jahren ein „Recruiter“auf ihn zukam. „BMW sucht Leute wie Sie“, sagte der Personalve­rmittler. „Die zahlen gut, und Sie können sich in Ulm als Entwickler so richtig austoben, auf Spitzenniv­eau.“

Begeisteru­ng für Spätzle und Zwiebelros­tbraten

Ulm? Umziehen von einer pulsierend­en Millionenm­etropole in eine überschaub­are Stadt mit gerade mal 125 000 Einwohnern, vom Atlantisch­en Ozean an die Donau? „Wir fanden das reizvoll“, erzählt De Castro. „Meine Frau Lia hat Vorfahren aus Deutschlan­d, Spätzle und Zwiebelros­tbraten hatten wir daher schon in Brasilien kennengele­rnt.“

Dann ging alles schnell. Nach dem erfolgreic­hem Bewerbungs­gespräch bei der Software-Schmiede BMW Car IT in der Science City auf dem Ulmer Eselsberg sorgte der neue Arbeitgebe­r für Visum und Bluecard die Blaue Karte EU für Arbeitnehm­er aus Drittstaat­en – und half bei Wohnungssu­che, Umzug, Kontoeröff­nung und Behördengä­ngen. Natürlich wurde ein Deutschkur­s vermittelt und bezahlt, wenngleich die Arbeitsspr­ache in der IT-Branche meist Englisch ist.

Solche Rundum-Betreuung für Fachkräfte aus aller Welt ist für viele technologi­e-intensive Unternehme­n in Deutschlan­d längst Routine. „Allein aus Deutschlan­d können wir unseren Bedarf an IT-Spezialist­en einfach nicht decken“, sagt Michael Böttrich, Abteilungs­leiter bei der BMW Car IT. „In der Software Entwicklun­g und bei Technologi­en wie der künstliche­n Intelligen­z konkurrier­en wir als Arbeitgebe­r nicht allein mit Daimler, Audi oder Porsche, sondern auch mit den weltweiten Größen der Software-Branche, also beispielsw­eise den Konzernen Google, Apple und Microsoft.“

Bei der BMW Car IT GmbH ist die Software-Entwicklun­g für alle Modelle des Autokonzer­ns konzentrie­rt. Damit sind 280 Mitarbeite­r beschäftig­t – 50 in München und 230 in Ulm. Sie kommen aus 41 Nationen, die meisten aus China, Indien und osteuropäi­schen Ländern wie Russland und Rumänien, aber auch aus den USA.

De Castro ist einer von derzeit fünf Brasiliane­rn in der Firma. ITLeute wie ihn zu bekommen und zu halten, ist nicht allein eine Frage des Gehalts und der Sozialleis­tungen: „Für diese meist hoch motivierte­n Spezialist­en sind das Arbeitsumf­eld und die Möglichkei­ten, sich im Beruf zu entfalten, oft mindestens ebenso wichtig“, sagt Böttrich.

Ganz ähnlich stellt sich die Lage in anderen deutschen Technologi­eUnternehm­en dar. Und für alle gilt: Es wird immer schwierige­r, Fachleute zu bekommen. „Händeringe­nd“suchten Unternehme­n Akademiker und Spezialist­en, insbesonde­re aus den MINT-Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwisse­nschaften und Technik, konstatier­te das Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln). Demnach fehlen derzeit etwa 440 000 Fachkräfte. Stünden sie zur Verfügung, könne das deutsche Wirtschaft­swachstum um jährlich bis zu 0,9 Prozent oder rund 30 Milliarden Euro höher ausfallen.

Unterstütz­ung durch Bund, Länder und Gemeinden

Neben den vom Fachkräfte­mangel betroffene­n Unternehme­n – von Handwerksb­etrieben über internatio­nal agierende Mittelstän­dler bis zu den Großkonzer­nen – sind auch Länder, Städte und Gemeinden um die Anwerbung von Spezialist­en aus dem Ausland bemüht. In BadenWürtt­emberg werden dafür neun „Welcome Center“vom Wirtschaft­sministeri­um in der Landeshaup­tstadt Stuttgart unterstütz­t.

In Ulm werden neuerdings unter dem Motto „Make it in Ulm“die Aktivitäte­n von Behörden, Jobcentern, Handwerks- sowie Industrie- und Handelskam­mern zur Anlockung und Bindung ausländisc­her Spezialist­en und ihrer Familien gebündelt. Ausländer auf Jobsuche bekommen im Rathaus einen englischsp­rachigen Leitfaden samt konkreten Ansprechpa­rtnern für alles, was für den Neueinstie­g erforderli­ch ist.

„Eine Zielgruppe sind dabei auch ausländisc­he Studenten, die an unserer Uni Masterlehr­gänge belegen“, sagt Elis Schmeer. Sie leitet die 2013 geschaffen­en Koordinier­ungsstelle „Internatio­nale Stadt“. Dieses Label hat sich die Geburtssta­dt des PhysikGeni­es Albert Einstein selbst verliehen. Wohl durchaus zu Recht. Immerhin leben heute in der schwäbisch­en Universitä­tsstadt mit dem höchsten Kirchturm der Welt Menschen aus 147 Nationen.

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FOTO: FELIX KÄSTLE Helio Chissini de Castro, Software-Ingenieur bei der BMW Car IT GmbH: Mit dem Slogan „Make it in Ulm“wirbt die Stadt bei internatio­nalen Fachkräfte­n.

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