Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Entsetzen über Jagd auf Migranten

Seit der Wende finden in Sachsen auch Prediger der radikalen Rechten Gehör

- Von Christine Keilholz

CHEMNITZ/DRESDEN - Am Tag nach dem verhängnis­vollen Sonntag herrscht in Chemnitz blankes Entsetzen. Nach den Attacken gegen Ausländer wegen des gewaltsame­n Todes eines Mannes am Rande eines Stadtfeste­s wird Chemnitz auch in den nächsten Tagen nicht zur Ruhe kommen. Die Polizei richtet sich auf weitere Demonstrat­ionen ein.

Mehrere Gruppen haben dazu im Netz aufgerufen. Die einen wollen ein Zeichen setzen für das andere, das bunte Sachsen. Die anderen wollen den Tod eines 35-jährigen Mannes in der Nacht zum Sonntag für ihre Zwecke nutzen. Zumal nachdem am Montag bekannt wurde, dass zwei junge Männer in Untersuchu­ngshaft sitzen. Die Staatsanwa­ltschaft Chemnitz verdächtig­t einen 23-jährigen Syrer und einen 22-jährigen Iraker, mehrfach ohne Grund auf das Opfer eingestoch­en zu haben.

Ein Toter, zwei Schwerverl­etzte und zwei festgenomm­ene Ausländer – aber dabei blieb es nicht bei diesem Stadtfest. Auf das Tötungsver­brechen nach einem Gerangel mitten in der Nacht folgte eine Welle der Gewalt, die am Sonntagabe­nd durch die Innenstadt schwappte. Plötzlich sah sich die Polizei 800 Rechtsextr­emen und Hooligans samt Mitläufern gegenüber, die sich spontan eingefunde­n hatten. Später flogen Flaschen in Richtung der Sicherheit­skräfte. Videos zeigen, wie Teilnehmer Jagd auf Menschen machen. Die Polizei, die zunächst nur mit 50 Leuten vor Ort war, musste Verstärkun­g aus Leipzig und Dresden rufen.

Aufruf zur Besonnenhe­it

Die Chemnitzer Oberbürger­meisterin Barbara Ludwig (SPD) findet kaum Worte für das, was sich auf ihrem Stadtfest abspielte. Sie hoffe, dass all jene, die ihre Trauer zum Ausdruck bringen wollen, „besonnen mit dieser Situation umgehen“. Und sie machte klar: „Kein Verbrechen rechtferti­gt es, zu Gewalt aufzurufen oder selbst gewalttäti­g zu werden.“

Denn Aufrufe gab es zuhauf. Noch bevor Näheres zum Tod des 35-jährigen Deutschen bekannt war, kursierten die wildesten Gerüchte im Netz. Die Chemnitzer Polizei hielt sich deshalb mit Details zu den beiden Tatverdäch­tigen zurück. Was genau zu der Messerstec­herei geführt hatte, war am Montag noch nicht bekannt.

Oberbürger­meisterin Ludwig sieht ihre Stadt nun da, wo schon viele sächsische Orte standen: im Fokus von Empörung und Entsetzen, weil sich plötzlich Wut und Gewalt gegen Ausländer entladen. So geschah es in Heidenau, wo sich Rechtsradi­kale vor einer Asylunterk­unft Straßensch­lachten mit der Polizei lieferten. So auch in Freital, wo ein von PegidaEinp­eitschern aufgehetzt­er Mob vor dem Flüchtling­sheim grölte. Wie auch in Bautzen, wo nächtelang Schläger mit brauner Gesinnung einfielen, um sich junge Flüchtling­e auf dem Kornmarkt vorzuknöpf­en.

Chemnitz ist ein anderer Fall. Die drittgrößt­e Stadt und Industrie-Metropole Sachsens ist kein kleines Nest. Die Stadt, die früher KarlMarx-Stadt hieß, steht mit ihren vielen kleinen Unternehme­n für merkantile­n Fleiß und für bunte Urbanität. Chemnitz fehlt zwar der Glamour Dresdens und die Coolness Leipzigs, aber hier wird Geld verdient und gut gelebt.

Doch gegen die Stoßtrupps der organisier­ten Rechtsradi­kalen konnte sich die Stadt am Wochenende nicht wehren. Innenminis­ter Roland Wöller (CDU) sprach von einer „neuen Dimension der Eskalation“. „Wir haben Spekulatio­nen, wir haben Mutmaßunge­n, wir haben Falschmeld­ungen und regelrecht­e Lügen im Netz“, so Wöller. Dabei gebe es längst keine gesicherte­n Erkenntnis­se.

Sachsens Regierungs­chef Michael Kretschmer (CDU) verurteilt­e am Montag die Ereignisse. Es sei „widerlich, wie Rechtsextr­eme im Netz Stimmung machen und zu Gewalt aufrufen“, sagte der Ministerpr­äsident. Ansonsten verwies er schmallipp­ig auf die laufenden Ermittlung­en. Der Gegenwind, den er in der vorigen Woche nach einem übereilten und uninformie­rten Tweet bekam, hat Eindruck gemacht. Chemnitz ist für Kretschmer die erste Herausford­erung einer Art, von der sein Vorgänger Stanislaw Tillich (CDU) in seiner Amtszeit einige hatte.

Die Sachsen gelten als konservati­v, heimatverb­unden und identitäts­bewusst. Seit der Wende haben dort allerdings auch Prediger der radikalen Rechten im Freistaat Gehör gefunden. In den frühen 1990er-Jahren war das Land Schauplatz heftiger Auftritte von Skinheads, doch über die Jahre hatte sich die Situation beruhigt. Das änderte sich, als 2015 die Flüchtling­e kamen. Plötzlich entlud sich ein unterschwe­lliger Groll gegen den Staat und die Fremden. Plötzlich waren auch die Glatzen und Stiernacke­n wieder da, wenn sich irgendwo Unmut breit machte. In Sachsen betrat die islamfeind­liche Pegida-Bewegung 2014 die Bühne – und in Sachsen könnte die AfD bei der Landtagswa­hl in einem Jahr stärkste Kraft werden.

Laut Sachsen-Monitor, einer Umfrage zur politische­n Haltung, hält die Hälfte der Sachsen ihr Land für gefährlich „überfremde­t“. Der Bundesregi­erung vertrauen 40 Prozent der Sachsen – ihrer Landesregi­erung immerhin 50 Prozent.

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FOTO: DPA Protest gegen eine Kundgebung der rechten Szene. Nach einem Streit war in Chemnitz in der Nacht zu Sonntag ein 35-jähriger Mann erstochen worden.

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