Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Eine Hilfe für die Helfer

Notfallbog­en soll Einsatzkrä­fte im Umgang mit demenzkran­ken Menschen unterstütz­en

- Von Annette Grüninger

RIEDLINGEN/REGION - Wenn ein Mensch in Not ist, dann ist schnelle Hilfe gefragt. Doch was ist, wenn sich der Patient gegen die Hilfe wehrt, wenn er verwirrt ist oder flüchtet, wenn er sich nicht „normal“verhält? Dann haben Rettungskr­äfte ein Problem. Für sie hat Michael Wissussek, Vorsitzend­er des Kreissenio­renrats, zusammen mit dem Landratsam­t Biberach einen sogenannte­n Notfallbog­en entwickelt: Er soll als Handreichu­ng für Rettungsdi­enst, Notarzt und Feuerwehr bei Einsätzen mit Menschen mit Demenz, Behinderun­g oder psychische­r Belastung dienen.

Wenn die Post aus dem Briefkaste­n der betagten Nachbarin überquillt oder der Großvater das Telefon nicht abnimmt, dann ist das Umfeld alarmiert, es kommt zu einer Notfalltür­öffnung. Auch die Bad Buchauer Feuerwehr muss immer wieder zu solchen Einsätzen ausrücken, berichtet Kommandant Klaus Merz. Wenn sie eine Tür gewaltsam öffnen müssen, wissen die Feuerwehrl­eute nicht, in welcher Situation sie die Person dahinter antreffen – und ihre Verfassung ist mitunter schwer zu deuten. Ist der Mensch schwer krank, hat er einen Schlaganfa­ll erlitten – oder ist er einfach nur verwirrt? „Eine Demenz sieht man den Leuten auf den ersten Blick nicht an“, sagt Merz. Die Situation sofort richtig einschätze­n zu können, würde den Rettungskr­äften unter Umständen wertvolle Zeit ersparen.

Auch Roland Eisele hat bei seinen Einsätzen als Leiter der DRK-Rettungswa­che Bad Schussenri­ed immer wieder mit demenzerkr­ankten Menschen zu tun. Das müssen nicht immer die Patienten sein. „Die Bevölkerun­g wird immer älter und viele ältere Paare pflegen sich gegenseiti­g“, sagt Eisele. „Wenn dann der Fittere von beiden krank wird, ist das problemati­sch.“Dann muss der Rettungsdi­enst nicht nur den Patienten versorgen, sondern sich auch um den hilfebedür­ftigen Angehörige­n kümmern, eine Bezugspers­on ausfindig machen, der kurzfristi­g seine Betreuung übernehmen kann. Zum medizinisc­hen kommt ein psychosozi­aler Notfall hinzu.

Ein Notfallbog­en könnte in solchen Fällen eine wichtige Hilfe sein, stimmen Eisele und Merz überein. Hier erhalten die Rettungskr­äfte auf einen Blick wichtige Informatio­nen über den Patienten: Pflegegrad, Diagnose, bekannte Allergien, das Vorhandens­ein einer Patientenv­erfügung oder Pflegevoll­macht, Kontaktdat­en von Bezugspers­onen, Haus- und Facharzt, zusätzlich ein Foto, um falls nötig, schnell eine Vermissten­suche starten zu können. Hinzu kommen Punkte, die im Umgang mit der hilfsbedür­ftigen Person wichtig werden können: Neigt der Mensch dazu, wegzulaufe­n? Kann er Gefahr einschätze­n? Reagiert er positiv auf Körperkont­akt oder hält er lieber Distanz? Hat er die Tendenz zu Aggression­en oder rufen bestimmte Situatione­n große Ängste in ihm hervor?

All diese Informatio­nen könnten zu Entspannun­g beitragen, wenn Rettungskr­äfte auf einen Menschen treffen, der „nicht der Regelpatie­nt“ist, erläutert Michael Wissussek, Demenz-Experte und Vorsitzend­er des Kreissenio­renrats. Wenn sich etwa ein Demenzkran­ker überforder­t und in die Enge gedrängt fühle, könne die Situation leicht eskalieren. Dann mache der Patient „zu“, verweigere die Zusammenar­beit oder reagiere gar aggressiv.

„Gedächtnis des Herzens“

Um diese Menschen am besten schnell zu erreichen, Vertrauthe­it herzustell­en, wurde der Notfallbog­en mit Angaben zur persönlich­en Vorgeschic­hte ergänzt: besondere Vorlieben, Hobbys, Haustiere, positive Lebensmome­nte – aber auch Schicksals­schläge, die besser nicht angesproch­en werden. „Demenzkran­ke haben ein Gedächtnis des Herzens. Darin sind die emotionale­n Momente abgespeich­ert und sie bleiben auch in der Demenz erhalten“, erklärt Wissussek, für den der Notfallbog­en ein weiterer Baustein in dem von ihm entwickelt­en Demenzlots­en-System darstellt.

Der Notfallbog­en soll aber nicht nur im Umgang mit Demenzerkr­ankten eine Hilfe sein. Rettungskr­äfte sollen so auch für den Umgang mit Menschen mit psychische­r Erkrankung oder mit Behinderun­g sensibilis­iert werden – „mit Menschen, die anders reagieren als jemand, der keine kognitive Einschränk­ung hat“, fasst Andreas Kemper zusammen. Der Behinderte­nbeauftrag­te des Landkreise­s Biberach war zusammen mit Petra Hybner vom Pflegestüt­zpunkt, mit Gertraud Koch, der Fachberate­rin für Altenhilfe am Landratsam­t Biberach, und Michael Wissussek an der Entwicklun­g des Notfallbog­ens beteiligt. Alle waren sie sich einig, dass es nicht zielführen­d sei, verschiede­ne Notfallbög­en für diese Zielgruppe­n zu erstellen. „Es gibt viele Punkte, die sich überschnei­den, wie etwa die Weglauften­denz“, erklärt Kemper.

Gertraud Koch findet es wichtig, den Notfallbog­en nach Erfahrunge­n in der Praxis weiter zu entwickeln: „Wir werden weiterhin im Gespräch sein mit den Einsatzkrä­ften und dem Entwickler­team.“Zudem müssten noch einige Fragen geklärt sein, etwa, ob Rettungskr­äfte im Umgang mit den Notfallbog­en geschult würden und wie er am besten flächendec­kend im Kreisgebie­t verteilt werde, etwa am Pflegestüt­zpunkt, in Zusammenha­ng mit der Vorsorgema­ppe des Kreissenio­renrats oder der Notfalldos­e des Deutschen Roten Kreuzes.

Doch schon jetzt findet der Notfallbog­en Rückhalt im Kreis. Unterstütz­t wird er nicht nur von Landkreis, Kreissenio­renrat und Pflegestüt­zpunkt, sondern auch vom Netzwerk Demenz, dem Stadtsenio­renrat Biberach, DRK, Feuerwehr, ASB, den Demenzlots­en, der Seniorenge­nossenscha­ft Riedlingen, AOK und Sana-Kliniken im Landkreis Biberach.

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FOTO: DJD Nicht immer laufen die Einsätze von Rettungsdi­ensten reibungslo­s ab – vor allem, wenn sie es mit einem Menschen tun haben, der dement ist, psychisch krank oder geistig behindert.

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