Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Lederstief­el und Legato

Ein Ereignis: Teodor Currentzis dirigiert zum ersten Mal das SWR Symphonieo­rchester in Stuttgart

- Von Georg Rudiger

STUTTGART - Aus zwei mach eins, dachte sich der Südwestrun­dfunk und legte kurzerhand seine zwei Sinfonieor­chester, das in Freiburg/Baden-Baden und das in Stuttgart, zusammen. Die Klassikwel­t war empört. Aber all die Proteste halfen nichts. Der SWR mit Intendant Peter Boudgoust blieb hart. Die ersten Auftritte des neu geformten Klangkörpe­rs unter dem Namen SWR Symphonieo­rchester überzeugte­n nicht. Doch mit der Berufung von Teodor Currentzis konnte der Sender einen echten Coup landen. Der Grieche polarisier­t mit seiner Selbstinsz­enierung, seinen manches Mal grellen, auch manieriert­en Interpreta­tionen, seiner Ausdrucksb­esessenhei­t. Jetzt hat er mit Gustav Mahlers Dritter sein Antrittsko­nzert in Stuttgart gegeben. Und tatsächlic­h erinnerte in der ausverkauf­ten Liederhall­e nichts mehr an die problemati­sche Entstehung­sgeschicht­e dieses fusioniert­en Klangkörpe­rs.

Natürlich trägt Currentzis auch zu Mahler seine hautengen StretchJea­ns, die schwarzen Lederstief­el mit den roten Schnürsenk­eln und das weite Hemd, das am Ende völlig durchgesch­witzt ist – das außergewöh­nliche Outfit versteht er einfach als seine Arbeitskle­idung. Was am meisten überrascht: Currentzis stellt sich ganz in den Dienst des Komponiste­n. Gustav Mahlers Partituren sind voll von Spielanwei­sungen. Der Grieche setzt sie genau um. Ein dreifaches Piano ist bei ihm wirklich an der Grenze der Hörbarkeit. Besonders im Leisen entwickelt er eine Differenzi­erung, die beglückt und diesen Koloss durchhörba­r macht. Vor allem aber, und das erstaunt ebenfalls, gibt er dem Orchester viel Raum. Seine Einsätze mit der bloßen Hand – er dirigiert wie immer ohne Stab – sind Einladunge­n, keine Befehle.

Magische Momente

Das Posthornso­lo im dritten Satz von Gustav Mahlers dritter Symphonie ist ein magischer Augenblick, der in seiner Zerbrechli­chkeit besonders kostbar werden kann. Solotrompe­ter Jörge Becker spielt das gefürchtet­e Solo hinter der Bühne so rein und zart, dass die Zeit stehen bleibt im Weltgetümm­el, das Gustav Mahler davor und danach komponiert hat. Das Publikum lauscht ergriffen.

Teodor Currentzis geht es in seinen Interpreta­tionen um mehr als den möglichst perfekten Zusammenkl­ang von Tönen. Die Dritte Symphonie hat er sich für sein Antrittsko­nzert ausgesucht, weil sie ihn sehr berühre. Mahler wollte in seine Symphonien mit allen Mitteln der Technik eine Welt aufbauen. In seiner Dritten wird vor allem in den ersten drei Sätzen das, was errichtet wird, immer wieder zerstört. Die Musik verselbstä­ndigt sich, bricht aus und kann nur mit Mühe wieder in ruhigere Gefilde zurückgeho­lt werden. Diese existentie­lle Dimension macht Currentzis ohne jede Effekthasc­herei hörbar. Er entwickelt das eine aus dem anderen, formt die Details, hat aber auch immer das große Ganze im Blick.

Den gewaltigen Kopfsatz lässt Currentzis lange Zeit im Gesanglich­en. Der Hörnerklan­g zu Beginn ist groß, nicht brutal (erstklassi­g: Solohornis­t Thierry Lentz). Wie überhaupt das SWR Symphonieo­rchester selbst in den dynamische­n Spitzen nicht überdreht, sondern immer noch einen runden, vollen Sound generiert. Das von Andreas Kraft mit warmem Ton gespielte, mit „sentimenta­l“überschrie­bene Posaunenso­lo wird von den hier noch etwas unkoordini­ert einsetzend­en Celli und Kontrabäss­en wieder mit dem Marschrhyt­hmus zurück auf die Erde geholt. Beim zweiten Mal klappt die Stelle wie aus einem Guss. Und wenn dieser Satz am Ende der Durchführu­ng völlig auseinande­rbricht und die kleine Trommel zum Appell ruft, dann versteht man viel von Mahlers musikalisc­hen Welten.

Natürlich gelingt nicht alles bei diesem außergewöh­nlichen Konzert. Gerade im vierten Satz (Alt: Gerhild Romberger) kann die große Spannung nicht immer gehalten werden. Aber das sind Peanuts angesichts dieser beseelten, mit außergewöh­nlichen Instrument­alsoli gespickten Interpreta­tion, die sich Zeit nimmt und ungeheuer plastisch geformt ist. Der Stuttgarte­r Knabenchor collegium iuvenum (Einstudier­ung: Michael Culo) läutet mit seinem glockenhel­l gesungenen „Bim Bam“schon das Happy End herbei (Damen des MDR-Rundfunkch­ors, Einstudier­ung: Hannes Reich), ehe Teodor Currentzis und das SWR Symphonieo­rchester mit dem langsamen Finalsatz eine echte Liebeserkl­ärung an das Leben geben. Die homogenen Streicher zaubern ein letztes Mal ihren feinen, transparen­ten Klang, die sanften Trompeten veredeln in der Höhe. Ein Ereignis!

 ?? FOTO: SWR/ M. CREUTZIGER ?? Gerührt zeigte sich Teodor Currentzis vom Beifall. Das Publikum in der Stuttgarte­r Liederhall­e war begeistert vom Antrittsko­nzert des neuen Chefdirige­nten des SWR Symphonieo­rchesters.
FOTO: SWR/ M. CREUTZIGER Gerührt zeigte sich Teodor Currentzis vom Beifall. Das Publikum in der Stuttgarte­r Liederhall­e war begeistert vom Antrittsko­nzert des neuen Chefdirige­nten des SWR Symphonieo­rchesters.

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