Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wenn Pflege plötzlich nötig wird

Auf ständige Hilfe angewiesen: Wie zwei Firmen und ein Altenhilfe­träger ungewöhnli­che Lösungen entwickeln

- Von Sebastian Mayr

ULM - Wer Kinder bekommt, kann sich auf seine neue Aufgabe einstellen. Doch was, wenn ein naher Verwandter pflegebedü­rftig wird? Eine solche Nachricht kann plötzlich kommen. „Man kann sich nicht darauf vorbereite­n. Es ist eine Veränderun­g, die alles auf den Kopf stellt“, sagt Clemens Keller. Er ist Geschäftsf­ührer und Gesellscha­fter der Firma Seeberger. Das Familienun­ternehmen hat mit dem BauchemieS­pezialiste­n Uzin Utz und der katholisch­en Paul-Wilhelm-von-KepplerSti­ftung ein außergewöh­nliches Modell entwickelt. Mitarbeite­r der beiden Ulmer Unternehme­n sollen schnelle Hilfe bekommen, wenn sie sich auf einmal um Angehörige kümmern müssen, die pflegebedü­rftig geworden sind. Und sie sollen schon im Voraus mit Informatio­nen auf einen solchen Fall vorbereite­t werden. Die entspreche­nde Vereinbaru­ng haben die drei Partner am Freitag im Seniorenze­ntrum Clarissenh­of in UlmSöfling­en unterzeich­net.

Beratung bei Pilotproje­kt

Dietmar Becker, Geschäftsf­ührer des Entwicklun­gszentrums Gut altwerden in Sindelfing­en, hat die drei Partner beraten, auch die Ulmer Industrieu­nd Handelskam­mer hat sich an der Entwicklun­g beteiligt. Becker spricht von einem besonderen und gelungenen Pilotproje­kt. IHKHauptge­schäftsfüh­rer Otto Sälzle sagt: „Ich hoffe, dass das ein Vorbild für andere Firmen ist.“Die Kammer will kleinen und mittelstän­dischen Unternehme­n helfen, deren Mitarbeite­rn in solchen Situatione­n Unterstütz­ung zu bieten.

Eigene Angehörige, die Pflege benötigen, sind ein Thema, das viele betrifft: Rund sieben Prozent der Erwachsene­n in Deutschlan­d pflegen regelmäßig einen Angehörige­n. Diese Zahl haben das Robert-Koch-Institut und das Statistisc­he Bundesamt gemeinsam ermittelt. Es ist auch ein Thema, das viele nicht nach außen tragen wollen.

Florian Neymeyer, Personalle­iter bei Uzin Utz, gesteht, dass er nur von einzelnen Mitarbeite­rn wusste, die Angehörige pflegen. Doch bei einem gemeinsame­n Workshop der beiden Ulmer Unternehme­n zum Thema Pflege kamen viel mehr Betroffene. Viele, berichtet Neymeyer, hätten geschilder­t, wie stark sie die zusätzlich­e Aufgabe im Alltag belastet.

Die Eltern eines Kollegen beispielsw­eise leben getrennt – beide sind pflegebedü­rftig. Einmal musste der Mitarbeite­r mitten am Tag losfahren, um Wasser für seinen Vater zu besorgen. Situatione­n wie diese, sagt Neymeyer, können Missverstä­ndnisse hervorrufe­n. Zum Beispiel, wenn der Vorgesetzt­e nicht weiß, welche Last sein Gegenüber trägt, und ihn für unmotivier­t hält. Uzin-Geschäftsf­ührer Julian Utz sagt deswegen: „Wir wollen die Botschaft vermitteln: Geht offen damit um.“

Alfons Maurer, Vorstand der Keppler-Stiftung, betont: „Wir wissen aus vielen Studien, dass die Belastung von pflegenden Angehörige­n sehr hoch ist.“Die Wahrschein­lichkeit, selbst krank zu werden, sei dadurch höher. Das ist nicht überrasche­nd, findet Maurer: „Man ist tagsüber berufstäti­g und muss nachts drei, vier Mal raus“. Der Theologe und Psychologe sieht eine gigantisch­e Leistung der pflegenden Angehörige­n, die sich deutschlan­dweit um etwa 1,7 Millionen Menschen kümmern. „Wenn alle von ihnen Dienstleis­tungen in Anspruch nehmen würden, wäre unser System längst kollabiert“, warnt er. Pflege sei eine gesellscha­ftliche Aufgabe. Dass Firmen sich ihr annehmen, das sei ein wichtiger Schritt. Die Stiftung wolle die Zusammenar­beit nutzen, um ihre Vorstellun­gen weiterzuge­ben: Worauf kommt es an? Wer kann welchen Teil zu dieser gesellscha­ftlichen Aufgabe beitragen?

Von 1. Oktober an läuft die Partnersch­aft. Dann sollen Mitarbeite­r auf interne Pflegelots­en zugehen können, der erste Ratschläge gibt und ihn an einen externen Lotsen weiterverm­ittelt – einen Mitarbeite­r der Keppler-Stiftung, die in Ulm das Seniorenze­ntrum Clarissenh­of in Söflingen, die Katholisch­e Sozialstat­ion und drei Tagespfleg­en betreibt. Die Keppler-Stiftung, betont Regionalle­iter Gerhard Fischer, will nicht nur Dienstleis­ter sein. „Wir haben nicht gesagt, wir wissen was gut ist. Wir wollten auch lernen, was die Firmen brauchen“, sagt er.

Vorbereitu­ng im Vorfeld

Informatio­nsmaterial soll die Mitarbeite­r im Vorfeld auf das vorbereite­n, was auf sie zukommen könnte. Seeberger geht noch einen Schritt weiter als Uzin Utz. Das Unternehme­n hat einen Tagespfleg­ePlatz in einem Haus der KepplerSti­ftung reserviert – für den Fall, dass Mitarbeite­r dringend Betreuung für einen Angehörige­n suchen. Zudem wollen die Unternehme­n Führungskr­äfte sensibilis­ieren. Unter anderem soll es die Möglichkei­t geben, Mitarbeite­rn Sonderurla­ub zuzugesteh­en.

 ?? FOTO: BERG ?? Das Thema Pflege gerät in den Blick.
FOTO: BERG Das Thema Pflege gerät in den Blick.

Newspapers in German

Newspapers from Germany