Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Wenn Pflege plötzlich nötig wird
Auf ständige Hilfe angewiesen: Wie zwei Firmen und ein Altenhilfeträger ungewöhnliche Lösungen entwickeln
ULM - Wer Kinder bekommt, kann sich auf seine neue Aufgabe einstellen. Doch was, wenn ein naher Verwandter pflegebedürftig wird? Eine solche Nachricht kann plötzlich kommen. „Man kann sich nicht darauf vorbereiten. Es ist eine Veränderung, die alles auf den Kopf stellt“, sagt Clemens Keller. Er ist Geschäftsführer und Gesellschafter der Firma Seeberger. Das Familienunternehmen hat mit dem BauchemieSpezialisten Uzin Utz und der katholischen Paul-Wilhelm-von-KepplerStiftung ein außergewöhnliches Modell entwickelt. Mitarbeiter der beiden Ulmer Unternehmen sollen schnelle Hilfe bekommen, wenn sie sich auf einmal um Angehörige kümmern müssen, die pflegebedürftig geworden sind. Und sie sollen schon im Voraus mit Informationen auf einen solchen Fall vorbereitet werden. Die entsprechende Vereinbarung haben die drei Partner am Freitag im Seniorenzentrum Clarissenhof in UlmSöflingen unterzeichnet.
Beratung bei Pilotprojekt
Dietmar Becker, Geschäftsführer des Entwicklungszentrums Gut altwerden in Sindelfingen, hat die drei Partner beraten, auch die Ulmer Industrieund Handelskammer hat sich an der Entwicklung beteiligt. Becker spricht von einem besonderen und gelungenen Pilotprojekt. IHKHauptgeschäftsführer Otto Sälzle sagt: „Ich hoffe, dass das ein Vorbild für andere Firmen ist.“Die Kammer will kleinen und mittelständischen Unternehmen helfen, deren Mitarbeitern in solchen Situationen Unterstützung zu bieten.
Eigene Angehörige, die Pflege benötigen, sind ein Thema, das viele betrifft: Rund sieben Prozent der Erwachsenen in Deutschland pflegen regelmäßig einen Angehörigen. Diese Zahl haben das Robert-Koch-Institut und das Statistische Bundesamt gemeinsam ermittelt. Es ist auch ein Thema, das viele nicht nach außen tragen wollen.
Florian Neymeyer, Personalleiter bei Uzin Utz, gesteht, dass er nur von einzelnen Mitarbeitern wusste, die Angehörige pflegen. Doch bei einem gemeinsamen Workshop der beiden Ulmer Unternehmen zum Thema Pflege kamen viel mehr Betroffene. Viele, berichtet Neymeyer, hätten geschildert, wie stark sie die zusätzliche Aufgabe im Alltag belastet.
Die Eltern eines Kollegen beispielsweise leben getrennt – beide sind pflegebedürftig. Einmal musste der Mitarbeiter mitten am Tag losfahren, um Wasser für seinen Vater zu besorgen. Situationen wie diese, sagt Neymeyer, können Missverständnisse hervorrufen. Zum Beispiel, wenn der Vorgesetzte nicht weiß, welche Last sein Gegenüber trägt, und ihn für unmotiviert hält. Uzin-Geschäftsführer Julian Utz sagt deswegen: „Wir wollen die Botschaft vermitteln: Geht offen damit um.“
Alfons Maurer, Vorstand der Keppler-Stiftung, betont: „Wir wissen aus vielen Studien, dass die Belastung von pflegenden Angehörigen sehr hoch ist.“Die Wahrscheinlichkeit, selbst krank zu werden, sei dadurch höher. Das ist nicht überraschend, findet Maurer: „Man ist tagsüber berufstätig und muss nachts drei, vier Mal raus“. Der Theologe und Psychologe sieht eine gigantische Leistung der pflegenden Angehörigen, die sich deutschlandweit um etwa 1,7 Millionen Menschen kümmern. „Wenn alle von ihnen Dienstleistungen in Anspruch nehmen würden, wäre unser System längst kollabiert“, warnt er. Pflege sei eine gesellschaftliche Aufgabe. Dass Firmen sich ihr annehmen, das sei ein wichtiger Schritt. Die Stiftung wolle die Zusammenarbeit nutzen, um ihre Vorstellungen weiterzugeben: Worauf kommt es an? Wer kann welchen Teil zu dieser gesellschaftlichen Aufgabe beitragen?
Von 1. Oktober an läuft die Partnerschaft. Dann sollen Mitarbeiter auf interne Pflegelotsen zugehen können, der erste Ratschläge gibt und ihn an einen externen Lotsen weitervermittelt – einen Mitarbeiter der Keppler-Stiftung, die in Ulm das Seniorenzentrum Clarissenhof in Söflingen, die Katholische Sozialstation und drei Tagespflegen betreibt. Die Keppler-Stiftung, betont Regionalleiter Gerhard Fischer, will nicht nur Dienstleister sein. „Wir haben nicht gesagt, wir wissen was gut ist. Wir wollten auch lernen, was die Firmen brauchen“, sagt er.
Vorbereitung im Vorfeld
Informationsmaterial soll die Mitarbeiter im Vorfeld auf das vorbereiten, was auf sie zukommen könnte. Seeberger geht noch einen Schritt weiter als Uzin Utz. Das Unternehmen hat einen TagespflegePlatz in einem Haus der KepplerStiftung reserviert – für den Fall, dass Mitarbeiter dringend Betreuung für einen Angehörigen suchen. Zudem wollen die Unternehmen Führungskräfte sensibilisieren. Unter anderem soll es die Möglichkeit geben, Mitarbeitern Sonderurlaub zuzugestehen.