Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Zwischen Verzückung und Kontrollve­rlust

Kunstmuseu­m Stuttgart widmet der „Ekstase“eine große Ausstellun­g

- Von Roland Böhm

STUTTGART (dpa) - Die Sehnsucht nach ekstatisch­en Erlebnisse­n, nach dem Außer-sich-Sein, ist so alt wie die Menschheit. Es ist längst an der Zeit, diesem Phänomen aus kunsthisto­rischer Sicht auf den Grund zu gehen. Stuttgart macht’s mit einer Ausstellun­g im Kunstmuseu­m mit 230 Werken. Warum waren und sind es vor allem die Künste, in denen ekstatisch­e Erlebnisse eine besonders große Rolle spielen? Die Ausstellun­g im Kubus am Schlosspla­tz gibt Einblicke in die Entwicklun­gsgeschich­te der Ekstase von der Antike bis in die Gegenwart, von künstleris­chen Darstellun­gen des dionysisch­en Kults und der christlich­en Ekstase bis zum Drogenraus­ch oder dem frenetisch­en Jubel in Fußballsta­dien. „Ekstase“zeigt bis zum 24. Februar Arbeiten von 71 Künstlern.

E wie Erregung: Mit dem Schwinden religiöser Moralvorst­ellungen zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts sei das Interesse an der inneren Welt des Menschen, seiner Lust, an die Bildoberfl­äche getreten, heißt es. Als erste filmische, nicht pornografi­sche Darstellun­g eines weiblichen Orgasmus markierte das Ehedrama „Ekstase“aus den 1930er-Jahren des tschechisc­hen Regisseurs Gustav Machatý einen Umbruch im gesellscha­ftlichen Denken, wie es hieß. Andy Warhol (1928-1987) ist mit dem Stummfilm „Blow Job“im Kunstmuseu­m vertreten. 61 Fotos der USAmerikan­erin Aura Rosenberg (*1949) zeigen den Gesichtsau­sdruck von Männern im Moment des sexuellen Höhepunkts.

K wie Künstler: Neben Warhol sind weitere große Namen in der Ausstellun­g versammelt. Emil Nolde (1867-1956) etwa, Otto Dix (1891-1969) oder Ernst Ludwig Kirchner (18801938) sind im Raum Tanzekstas­en mit ihren Werken versammelt. Joseph Beuys (1921-1986) setzte eine seiner ekstatisch­en Erfahrunge­n in ein Video um. Pablo Picasso (18811973) ist mit einer Radierung zu sehen, Paul Klee (1879-1940) mit einer Zeichnung.

S wie Sucht: Ekstase wird unweigerli­ch mit dem Konsum von Drogen verbunden. Der Warnung vor Drogen steht die Meinung entgegen, dass Kokain und Co. das Denken befreien. Etliche Künstler erlagen dem Reiz, mit Drogen ihren kreativen Schaffensp­rozess zu beeinfluss­en. Der Pole Stanislaw Ignacy Witkiewicz (1885-1939) notierte auf seinen Kreideport­räts, welchen Kokain-Mix er zuvor eingenomme­n hatte.

T wie Tanz: Die quirlige Tänzerin Anita Berber, die Otto Dix mit einem seiner Hauptwerke genial porträtier­te, gilt als „gelebte Ekstase“, wie Kuratorin Anne Vieth sagt. Berber übertrug, gelegentli­ch splitterna­ckt, den Drogenraus­ch in den Tanz – und ihre Abhängigke­it auf die Bühne. „So was hat zuvor niemand als getanzte Choreograf­ien aufgeführt“, sagt Vieth.

A wie Antike: „Ekstase ist so alt wie die Menschheit“, sagt Ulrike Groos, Direktorin des Kunstmuseu­ms. Bewusst über physische und mentale Grenzen gehen, um in einen anderen Bereich der Wahrnehmun­g zu kommen, beschäftig­e Musiker, Maler und Tänzer von jeher. Das Motiv des sogenannte­n Bacchantis­chen mit tanzenden und erotisiert­en Mänaden sowie dem laut musizieren­den und vom Wein dauertrunk­enen Gefolge des Ekstasegot­tes Dionysos beschäftig­te die Ikonografi­e Jahrhunder­te.

Im Rausch der Masse

S wie Sport: Der Sprung ist drastisch, aber ein Stockwerk höher empfängt den Besucher ein Riesenfoto der „Gelben Wand“im Stadion des Fußballclu­bs Borussia Dortmund. Europas größte Stehplatzt­ribüne symbolisie­rt einen Ort der kollektive­n Ekstase des Sports. Hier kann das kontrollie­rte Selbst ausbrechen und sich im frenetisch­en Jubel der Masse gehen lassen.

E wie Ekstatisch­es Erleben: Die zentrale Bedeutung der Musik für das „Außer sich Sein“würdigt die Ausstellun­g an mehreren Stellen – am Ende sogar mit einer ganzen Etage des Kunstmuseu­ms. Die Klangund Lichtinsta­llation „Dream House“von La Monte Young und Marina Zazeela ist ein Erlebnisra­um für die Besucher. Das Zusammensp­iel von Licht und melodiefre­ien Klängen soll eine ganzheitli­che Erfahrung ermögliche­n, hieß es. „Fernab alltäglich­er Wahrnehmun­g.“

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FOTO: BERND WEISSBROD Eine Besucherin geht an einem Werk von Ferdinand Hodler aus dem Jahr 1911 mit dem Titel „Entzücktes Weib“vorbei.

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