Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Er möcht’ so gern viel größer sein
Der Kia Picanto GT Line kann ohne Minderwertigkeitskomplexe durch die Stadt brausen
Da kann man noch so fest pusten: Wenn man einen Teddybären aufbläst, wird trotzdem kein Grizzly daraus. Und aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, gelingt auch nur im übertragenen Sinne und nie im wörtlichen. Doch den koreanischen Autobauern bei Kia ist das egal. Sie behaupten zwar nicht direkt, dass der putzige Kia Picanto 1.0 T-GDi GT Line ein SUV (Sport Utility Vehicle) sei, was eingedeutscht in etwa ein geländegängiges Fahrzeug, gerne mit Allradantrieb, bezeichnet. Sie haben ihn aber unübersehbar als gestalterisches Zitat der großspurigen Alltagsstraßenpanzer konzipiert, nach denen viele Menschen sich offenbar so sehnen. Nüchtern betrachtet trägt das Gefährt frontseitig ein bissiges, ja fast zorniges Antlitz, das wahrscheinlich sagen soll: „Leg dich ja nicht mit mir an!“
Was noch dazukommt: Trotz der vielfältigen Rennsport-Attribute – rote Zierstreifen, Doppelauspuff und Breitreifen – ist das Auto weder SUV noch Rennwagen – und ganz sicher nichts für Menschen, deren Grundhaltung Understatement ist. Und bei diesen Definitionsfragen beginnt schon das Dilemma des koreanischen Kleinstwagens: Ein Auto dieser Größe, das den Eindruck erweckt, mit den mächtigen Brüdern mithalten zu wollen, wirkt immer ein bisschen so, als fahre es auf Zehenspitzen durch die Gegend, um ein gutes Stückchen größer zu erscheinen, als es dann tatsächlich ist.
Dabei hat der kleine Flitzer genügend eigene Qualitäten, um ganz gut ohne Geländewagenminderwertigkeitskomplexe durch die Stadt zu brausen. Dafür sorgen unter anderem
der ein Liter große Turbobenzinmotor und seine 100 PS, mit deren Hilfe es dann nur gut zehn Sekunden braucht, um die rund 1100 Kilo auf 100 km/h zu beschleunigen. Der vom Hersteller versprochene kombinierte Verbrauch von 4,7 Litern ist bei solcher Fahrweise natürlich mehr Wunsch als Wirklichkeit. Während unseres Tests in jedweder Fahrumgebung – von Feldweg bis Autobahn – zeigt der übersichtliche Bordcomputer meist sechs Liter an. Verbrauchstechnisch ist der Kia damit tatsächlich ein kleiner SUV – und wahrscheinlich nichts, womit man sich um den Titel Klassenprimus bewerben könnte. Allerdings verheißt so ein relativ großer Benzindurst auch ein gehöriges Maß an Fahrspaß, der mit dem Wagen sehr gut möglich ist. Denn der Turbo verführt natürlich zu einer Fahrweise, deren oberste Prämisse eben nicht die Sparsamkeit ist.
Gleichzeitig erfreut das Gefährt den Besitzer mit einer stabilen Kurvenlage. Allerdings gibt das straffe Fahrwerk die topographischen Besonderheiten der Straße eins zu eins weiter, was bedeutet: Jeder überfahrene Kiesel ist auch im Innenraum noch deutlich zu spüren. Ob das gefällt, hängt wesentlich vom Fahrertyp ab. Denn während der eine die Straße fühlen will, um ein sportliches Fahrerlebnis zu haben, interpretiert der nächste diesen Umstand als mangelnden Komfort.
Mangel ist beim Picanto GT Line tatsächlich auch an anderer Stelle ein Thema – und zwar wenn es um die Beinfreiheit auf den Rücksitzen geht. Wer als Erwachsener auch hinten Wert auf ausreichende Durchblutung seiner Beine legt, sollte Fahrten,
die länger als zehn Minuten dauern, unbedingt vermeiden. Dafür haben es die Passagiere vorn auch mit längeren Haxen recht bequem. Die mit Kunstleder bezogenen Sportsitze machen es überdies möglich, dass der Po auch dann noch dort bleibt, wo er hingehört, wenn es in der Kurve mal ein bisschen rasanter zugeht.
Große Klasse ist das kleine Auto in Sachen Ausstattung: Das Entertainment-Navigations-Telefonie-Klimatisierungszentrum in der Fahrzeugmitte lässt auch verwöhnte Mittelklassefahrer staunend zurück. Nicht nur, dass Features wie Tempomat oder Smartphone-Konnektivität vorhanden sind – all der elektronische Krimskrams funktioniert auch noch ruckelfrei, bequem steuerbar über die Schalter am edlen Lederlenkrad.
Zu den nützlichsten Dingen im Innenraum gehört gewiss die induktive Ladefläche fürs Handy – einfach auf die rutschfeste Matte legen, und schon lädt sich der Akku des Telefons ohne irgendwelche Kabel auf. Und noch was Tolles: Die wirklich großzügigen und mit nützlichen Hilfslinien versehenen Bilder der Rückfahrkamera erleichtern den urbanen Alltag immer dann, wenn es um die souveräne Eroberung auch kleinster Parklücken geht.
Ein Kleinkaliber ist der Kia allerdings bei der Zuladung hinter der Heckklappe. Dort wird es schon etwas ungemütlich, wenn der Wochenendeinkauf verstaut werden will. Wobei: Niemand hat gesagt, dass ein Kleinstwagen die Vorzüge einer Familienkutsche bietet. Außerdem relativiert sich das Platzproblem durch das Umklappen der Rücksitze, was ein Volumen von dann etwa 1000 Litern eröffnet.
Kurzum: Für junge Menschen, die Freude am Fahren mit einer gewissen sportlichen Herausforderung kombiniert wissen wollen, kann der Kia Picanto GT Line eine erschwingliche Offenbarung sein. Auch wenn – oder gerade weil – dieser sympathische Teddy auf Grizzly macht.