Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Japanische Delegation erkundet Waldkindergarten
Von Ibaraki nach Laupheim: Erziehergruppe aus Fernost möchte lernen, wie Kindergärten in Europa funktionieren
LAUPHEIM - In Japan sind Erzieherinnen und Erzieher großem Druck ausgesetzt, beklagt Kazuko Nakajima. Denn bereits in den Kindergärten stehe vor allem die Leistung der Kinder im Vordergrund. Strenge Lehrpläne diktieren den Alltag. Nakajima leitet einen Kindergarten in der Nähe von Tokio und möchte ihren Kollegen zeigen, welche Alternativen es in der Kinderbetreuung gibt. Deshalb hat sie eine Bildungsreise nach Europa auf die Beine gestellt. Die Station am Montag: der Waldkindergarten Hölzle in Laupheim.
Auf den Baumstämmen, wo normalerweise die Kinder sitzen, hocken heute elf Erzieherinnen und Erzieher aus Ibaraki, einer Region nördlich von Tokio. Sie haben ihre Stifte und Blöcke gezückt, stellen Fragen, machen sich Notizen und lauschen gespannt den Erklärungen von Sieglinde Stocker, der Leiterin des Waldkindergartens. Ihre Antworten bekommen sie immer ein wenig versetzt, denn diese müssen erst aus dem Deutschen ins Japanische übersetzt werden – das erledigt Megumu Rommel. Die Reiseveranstalterin ist gebürtige Japanerin, lebt seit 17 Jahren in Laupheim und hat den Kontakt zum Waldkindergarten hergestellt.
Klare Vorgaben
Für ganz Japan gibt es einheitliche Lernziele, die für alle Kindergärten verbindlich sind, erzählt Kazuko Nakajima. Außerdem sei genau vorgeschrieben, wie diese Lernziele erreicht werden müssen. Den Erzieherinnen und Erziehern bleibe nur wenig Freiraum, eigene Ideen umzusetzen. Umso wichtiger sei es, dass sie neue Konzepte kennenlernen, meint die 62-Jährige. Nur so könnten sie den kaum vorhandenen Freiraum optimal nutzen. „In Baden-Württemberg haben wir einen Bildungsplan“, erklärt Sieglinde Stocker ihren japanischen Gästen. „Die Landesregierung gibt Ziele vor, aber wie wir diese Ziele erreichen, das ist uns überlassen.“
Detailliert beschreibt die Leiterin des Waldkindergartens den Alltag der Kinder. Sie erzählt von den Spaziergängen, die sie jeden Tag vor dem Frühstück unternehmen. Von der Natur, in der die Kinder ihre eigenen Spielsachen entdecken. Von den Lupendosen, mit denen sie Insekten untersuchen. Und von dem Mittagessen, dass sie einmal in der Woche gemeinsam im Wald zubereiten. Ob das nicht zu aufwendig ist, möchte jemand wissen. Stocker antwortet: „Für uns gehört das zum Alltag.“Manchmal bringe sie sogar von zu Hause ihre Nudelmaschine mit. „Das lieben die Kinder.“
Stoppstellen markieren Grenzen
Die japanischen Besucher haben noch viele weitere Fragen: Lernen die Kinder das Alphabet? Denn in japanischen Kindergärten fangen die Kinder früh mit dem Lernen an. „Bei uns nicht“, antwortet die Leiterin. „Wir finden, dass die Kinder das machen sollen, was ihrem Alter entspricht.“Und wie schaut es mit der Sicherheit aus? Schließlich lauern in der Natur doch auch Gefahren, meint eine junge Japanerin. „Klettern dürfen die Kinder nur unter Aufsicht“, erklärt Stocker. Außerdem wüssten die Jungen und Mädchen genau, bis wohin sie gehen dürfen. Kein Kind gehe verloren. Sogenannte Stoppstellen markieren die Grenzen – und die werden unter anderem von Bäumen verkörpert. „Die Kinder lernen früh, zwischen Tannen und Birken zu unterscheiden.“
Auch die Kinder berichten aus ihrem Alltag. Stolz zeigt die sechsjährige Maja einen Laternenstab, den sie selbst geschnitzt hat – natürlich auch unter Aufsicht der Erzieher im Waldkindergarten. Die Japaner staunen. Zum Einsatz kommt der Stab bereits am Freitag, wenn Erzieher, Kinder und Eltern gemeinsam das Laternenfest feiern.
Für die japanische Gruppe geht die Reise weiter in die Niederlande, wo sie noch weitere Kindergärten besichtigt. Der Besuch in Laupheim hat ihnen schon mal gut gefallen: „Ich habe viel Inspiration für meinen Alltag bekommen“, sagt Nozomi Masui, die seit acht Jahren als Erzieherin arbeitet. Und auch Kazuko Nakajima ist zufrieden: „Vielleicht gelingt es uns, die Situation in den japanischen Kindergärten zu ändern.“