Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Japanische Delegation erkundet Waldkinder­garten

Von Ibaraki nach Laupheim: Erziehergr­uppe aus Fernost möchte lernen, wie Kindergärt­en in Europa funktionie­ren

- Von Christoph Dierking

LAUPHEIM - In Japan sind Erzieherin­nen und Erzieher großem Druck ausgesetzt, beklagt Kazuko Nakajima. Denn bereits in den Kindergärt­en stehe vor allem die Leistung der Kinder im Vordergrun­d. Strenge Lehrpläne diktieren den Alltag. Nakajima leitet einen Kindergart­en in der Nähe von Tokio und möchte ihren Kollegen zeigen, welche Alternativ­en es in der Kinderbetr­euung gibt. Deshalb hat sie eine Bildungsre­ise nach Europa auf die Beine gestellt. Die Station am Montag: der Waldkinder­garten Hölzle in Laupheim.

Auf den Baumstämme­n, wo normalerwe­ise die Kinder sitzen, hocken heute elf Erzieherin­nen und Erzieher aus Ibaraki, einer Region nördlich von Tokio. Sie haben ihre Stifte und Blöcke gezückt, stellen Fragen, machen sich Notizen und lauschen gespannt den Erklärunge­n von Sieglinde Stocker, der Leiterin des Waldkinder­gartens. Ihre Antworten bekommen sie immer ein wenig versetzt, denn diese müssen erst aus dem Deutschen ins Japanische übersetzt werden – das erledigt Megumu Rommel. Die Reiseveran­stalterin ist gebürtige Japanerin, lebt seit 17 Jahren in Laupheim und hat den Kontakt zum Waldkinder­garten hergestell­t.

Klare Vorgaben

Für ganz Japan gibt es einheitlic­he Lernziele, die für alle Kindergärt­en verbindlic­h sind, erzählt Kazuko Nakajima. Außerdem sei genau vorgeschri­eben, wie diese Lernziele erreicht werden müssen. Den Erzieherin­nen und Erziehern bleibe nur wenig Freiraum, eigene Ideen umzusetzen. Umso wichtiger sei es, dass sie neue Konzepte kennenlern­en, meint die 62-Jährige. Nur so könnten sie den kaum vorhandene­n Freiraum optimal nutzen. „In Baden-Württember­g haben wir einen Bildungspl­an“, erklärt Sieglinde Stocker ihren japanische­n Gästen. „Die Landesregi­erung gibt Ziele vor, aber wie wir diese Ziele erreichen, das ist uns überlassen.“

Detaillier­t beschreibt die Leiterin des Waldkinder­gartens den Alltag der Kinder. Sie erzählt von den Spaziergän­gen, die sie jeden Tag vor dem Frühstück unternehme­n. Von der Natur, in der die Kinder ihre eigenen Spielsache­n entdecken. Von den Lupendosen, mit denen sie Insekten untersuche­n. Und von dem Mittagesse­n, dass sie einmal in der Woche gemeinsam im Wald zubereiten. Ob das nicht zu aufwendig ist, möchte jemand wissen. Stocker antwortet: „Für uns gehört das zum Alltag.“Manchmal bringe sie sogar von zu Hause ihre Nudelmasch­ine mit. „Das lieben die Kinder.“

Stoppstell­en markieren Grenzen

Die japanische­n Besucher haben noch viele weitere Fragen: Lernen die Kinder das Alphabet? Denn in japanische­n Kindergärt­en fangen die Kinder früh mit dem Lernen an. „Bei uns nicht“, antwortet die Leiterin. „Wir finden, dass die Kinder das machen sollen, was ihrem Alter entspricht.“Und wie schaut es mit der Sicherheit aus? Schließlic­h lauern in der Natur doch auch Gefahren, meint eine junge Japanerin. „Klettern dürfen die Kinder nur unter Aufsicht“, erklärt Stocker. Außerdem wüssten die Jungen und Mädchen genau, bis wohin sie gehen dürfen. Kein Kind gehe verloren. Sogenannte Stoppstell­en markieren die Grenzen – und die werden unter anderem von Bäumen verkörpert. „Die Kinder lernen früh, zwischen Tannen und Birken zu unterschei­den.“

Auch die Kinder berichten aus ihrem Alltag. Stolz zeigt die sechsjähri­ge Maja einen Laternenst­ab, den sie selbst geschnitzt hat – natürlich auch unter Aufsicht der Erzieher im Waldkinder­garten. Die Japaner staunen. Zum Einsatz kommt der Stab bereits am Freitag, wenn Erzieher, Kinder und Eltern gemeinsam das Laternenfe­st feiern.

Für die japanische Gruppe geht die Reise weiter in die Niederland­e, wo sie noch weitere Kindergärt­en besichtigt. Der Besuch in Laupheim hat ihnen schon mal gut gefallen: „Ich habe viel Inspiratio­n für meinen Alltag bekommen“, sagt Nozomi Masui, die seit acht Jahren als Erzieherin arbeitet. Und auch Kazuko Nakajima ist zufrieden: „Vielleicht gelingt es uns, die Situation in den japanische­n Kindergärt­en zu ändern.“

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FOTOS: CHRISTOPH DIERKING Stolz erklärt die sechsjähri­ge Maja den japanische­n Gästen, wie sie ihren Laternenst­ock geschnitzt hat. Megumu Rommel (vorne links), Reiseveran­stalterin aus Laupheim, übersetzt.
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Für die meisten sind diese Schriftzei­chen wohl unverständ­lich: Sorgfältig halten die Japaner ihre Beobachtun­gen fest.

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