Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Verdrängt, relativiert, schön geredet
Zum 80. Jahrestag des Novemberpogroms richtet der Ulmer Historiker Ingo Bergmann einen regionalen Blick auf den dunklen Punkt in der Geschichte
ULM - Zum 80. Jahrestag der auch in Ulm geschehenen Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 bringen das Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg und das Haus der Stadtgeschichte gemeinsam eine neue Publikation „1938. Das Novemberpogrom in Ulm – seine Vorgeschichte und die Folgen“heraus.
Autor Ingo Bergmann konnte für seine Arbeit auf die vielen Kontakte zu Nachfahren von Ulmer Juden zurückgreifen, die im Lauf seiner Arbeit am 2009 erschienenen Gedenkbuch für die Ulmer Holocaust-Opfer „Und erinnere dich immer an mich“entstanden waren. Angehörige stellten ihm Dokumente und Bilder zur Verfügung, die bislang nicht öffentlich worden waren. Das Buch „1938“, auf dessen Titel ein Foto der in der Pogromnacht zerstörten Ulmer Synagoge zu sehen ist, wird am heutigen Donnerstag, 8. November, um 19 Uhr im Stadthaus vorgestellt.
Auf 79 Seiten erläutert Ingo Bergmann unmittelbar und anschaulich und anhand von Zeitzeugenberichten und Dokumenten die Situation im Vorfeld des Pogroms, die Ulmer Ereignisse selbst und die Geschehnisse danach. Das geschieht nicht abstrakt, sondern in einer Weise, die die Opfer dem Leser nahebringt. Zudem gibt „1938“auch interessierten Lesern ohne Vorwissen die Möglichkeit, sich über die Ereignisse jener Nacht und der Folgezeit zu informieren, denn es ist leserfreundlich aufgemacht und schildert im ersten Kapitel die im 19. Jahrhundert wiederentstandene jüdische Gemeinde Ulms, deren Leben und deren von bekannten christlichen SynagogenArchitekt Adolf Wolff erbaute und seit 1873 mit einer Orgel ausgestattete Synagoge.
Dessen Schaffen verband christliche und jüdische Gotteshaus-Architektur und versinnbildlichte so den Wunsch der jüdischen Bevölkerung, „anerkannter Teil der Gesamtgesellschaft zu sein“, so Ingo Bergmann.
Da das Thema der Pogromnacht schon sehr lange bearbeitet wird, habe er es als seine Aufgabe gesehen, neue Berichte und originale Eindrücke in das Buch einzubringen, um die individuelle Dimension neu zu erzählen, sagt Bergmann.
Die Ereignisse vom November 1938 geschahen seiner Überzeugung nach aus einer Verkettung von Ereignissen heraus, die selbst Anfang des Jahres 1938 noch nicht vorstellbar waren. Der 9. November 1938 selbst war in der Zeit des Nationalsozialismus ein Feiertag für die Gefallenen des Hitler-Putsches 1923.
Der Befehl zur Zerstörung der Synagogen, jüdischer Geschäfte und Wohnungen habe die Menge reichsweit gezielt bei diesen Feiern erreicht, erläutert Bergmann.
Die Ausschreitungen in Ulm begannen in der Nacht zum 10. November – nach Zeitzeugenberichten zwischen ein und zwei Uhr. Der SA-Brigadeführer Erich Hagenmeyer hatte den Befehl zur Zerstörung der vier Synagogen in Ulm, in Buchau, Laupheim und Göppingen an UnterGruppierungen weitergereicht, in Ulm an die innerstädtische SA-Standarte 120.
Feuerwehr fand Synagoge „hell leuchtend und brennend“vor
SA-Männer hatten sich in Zivilkleidung unter anderem am Weinhof zusammenzufinden und von solchen Sammelpunkten aus die „Aktionen“durchzuführen. Um 3.55 Uhr wurde die Feuerwehr in Ulm alarmiert, die die Synagoge bereits „hell leuchtend und brennend“vorfand. Das Hauptfeuer habe sich auf der Empore befunden, berichtet der Autor. Jüdische Bürger wurden von SA-Männern unter der Vorgabe, beim Löschen helfen zu müssen, auf den Weinhof gezwungen, wo sie in den Brunnen getrieben und dort im kalten Wasser geschlagen wurden.
Nach der Terrornacht war für die jüdische Bevölkerung nichts mehr so wie vorher: Hatten die Juden bis dahin auf ein Verbleiben im Reich gehofft, hatte man die zunehmende Bedrohung verdrängt, relativiert und schön geredet – wie Bergmann sagt – so versuchten jetzt viele, zu fliehen oder auszureisen, und als das nicht mehr möglich war, im Untergrund zu überleben.
Fritz Hirsch beispielsweise, der im März 1943 deportiert werden sollte, gelang es im Durchgangslager Stuttgart, mit einem gefälschten Ausweis die Überzeugung zu schaffen, er sei Amerikaner, und so in ein Auffanglager für amerikanische Kriegsgefangene zu kommen.
Ingo Bergmann arbeitet in „1938“auch die Geschichte von Kindern auf, die über Kindertransporte ins Ausland gerettet wurden: Der vierjährige Otto Meth-Cohn beispielsweise musste im Juni 1939 unbegleitet nach Großbritannien ausreisen. Seine Mutter wurde in Auschwitz getötet. Sein Stiefvater, Rabbiner Julius Cohn, wurde in der Pogromnacht so schwer verletzt, dass er an deren Folgen starb.
Eine Besonderheit des Buches sind die 89 Abbildungen, von denen viele aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt wurden. Sie ermöglichen verstehende Einblicke in ganz Persönliches, geben aber auch Details preis, die öffentlich wenig bekannt sind, wie das ehemalige Gefängnis in der Griesbadgasse, in das die in der Pogromnacht verhafteten jüdischen Männer eingesperrt wurden.