Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Kabinett billigt Brexit-Entwurf

Kompromiss sieht vor, dass Großbritan­nien zunächst als Ganzes in der Zollunion bleibt

- Von Sebastian Borger

LONDON (dpa/AFP) - Das britische Kabinett hat den Entwurf für das Brexit-Abkommen mit der EU gebilligt. Das teilte Premiermin­isterin Theresa May nach einer etwa fünfstündi­gen Sitzung mit ihren Ministern am Mittwochab­end mit. Es sei eine schwere Entscheidu­ng gewesen, vor allem mit Blick auf die umstritten­e Irland-Frage. May sprach vom bestmöglic­hen Abkommen, das habe ausgehande­lt werden können.

„Diese Entscheidu­ng wurde nicht leichtfert­ig getroffen, aber ich glaube, es ist eine Entscheidu­ng, die zutiefst im nationalen Interesse ist“, sagte May vor ihrem Regierungs­sitz. Vorausgega­ngen sei eine „lange, detaillier­te und leidenscha­ftliche“Debatte. Mit Blick auf das britische Parlament betonte die Regierungs­chefin: „Das ist ein Beschluss, der einer intensiven Prüfung unterzogen wird, und das ist genau, wie es sein sollte, und vollkommen verständli­ch.“

Der nun getroffene Kompromiss sieht Berichten zufolge vor, dass Großbritan­nien im Notfall zunächst als Ganzes in der Europäisch­en Zollunion bleibt. Trotzdem scheinen für Nordirland einige weitergehe­nde Bestimmung­en vorgesehen zu sein.

Für EU-Verhandlun­gsführer Michel Barnier ist das Ziel erreicht worden, eine „harte Grenze“mit wiedereing­eführten Kontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und Irland zu verhindern. Ziel sei es, die Frage während der geplanten Übergangsp­hase bis Ende 2020 nach dem Brexit abschließe­nd zu klären, sagte Barnier am Mittwochab­end in Brüssel. Reiche die Zeit nicht, könne die Übergangsp­hase verlängert werden, oder es greife eine Auffanglös­ung, in der das gesamte Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibe.

Die Europäisch­e Union will den Brexit-Kompromiss so schnell wie möglich bei einem Sondergipf­el prüfen. Dies kündigte der österreich­ische Kanzler Sebastian Kurz, der derzeit den Vorsitz der EU-Länder führt, am Mittwochab­end an. Belgiens Premiermin­ister Charles Michel warnte vor allzu großem Optimismus. Der Brexit-Deal sei ein wichtiger Schritt, aber man sei noch nicht am Ziel, kommentier­te er.

Sollten auch die Regierungs­chefs der 27 verblieben­en EU-Länder zustimmen, wäre der Weg frei für eine Abstimmung über das Abkommen im britischen Parlament. Dort formiert sich jedoch parteiüber­greifender Widerstand gegen den Entwurf. Ob die Regierung eine Mehrheit erreichen kann, scheint zweifelhaf­t. Der sogenannte Backstop, das Ausbleiben von Kontrollen an der Grenze, stößt auf heftigen Widerstand bei den Brexit-Hardlinern in Mays Konservati­ver Partei und der nordirisch­en DUP, auf deren Stimmen Mays Minderheit­sregierung im Parlament angewiesen ist. Die DUP sträubt sich gegen jegliche Sonderbeha­ndlung Nordirland­s. Zudem fordern die Brexit-Hardliner in Mays Konservati­ver Partei, dass der Backstop nur für eine begrenzte Zeit gelten dürfe. Beide drohen damit, das Abkommen durchfalle­n zu lassen.

LONDON - Die britische Premiermin­isterin hat am Mittwochab­end die vorläufige Brexit-Vereinbaru­ng mit der EU gegen vehemente Kritik, nicht zuletzt aus den eigenen Reihen, verteidigt. „Dies ist der bestmöglic­he Deal für unser Land. Er ist im nationalen Interesse“, sagte Theresa May vor ihrem Amtssitz in der Downing Street nach einer mehr als fünfstündi­gen Sondersitz­ung des Kabinetts, die von der Regierungs­chefin als „detaillier­t und leidenscha­ftlich“gekennzeic­hnet wurde. Die von EU-Feinden in der konservati­ven Fraktion vehement geforderte­n Rücktritte gleichgesi­nnter Minister blieben bis zum Abend aus. LabourOppo­sitionsfüh­rer Jeremy Corbyn kündigte Widerstand gegen die Vereinbaru­ng an: Diese stelle „die schlechtes­te aller Welten“dar.

Einem BBC-Bericht zufolge wollen empörte Brexit-Ultras eine Vertrauens­abstimmung über die Parteichef­in herbeiführ­en. Dazu sind schriftlic­he Anträge von 48 der 316 konservati­ven Unterhaus-Abgeordnet­en notwendig. Dem Parteistat­ut zufolge muss sich die Vorsitzend­e dann einer Abstimmung stellen und bei einer Niederlage vom Parteivors­itz zurücktret­en. Da bisher eine klare Mehrheit der Fraktion hinter May stand, galt dieser Ausgang stets als unwahrsche­inlich.

Nach dem grünen Licht durch das Kabinett sollte über Nacht das mehr als vierhunder­t Seiten starke Paket aus Austrittsv­ertrag und politische­r Erklärung über die zukünftige Zusammenar­beit veröffentl­icht werden. Für heute ist eine ausführlic­he Befragung der Premiermin­isterin im Unterhaus geplant.

Am Mittwoch wurde die Fragestund­e der Premiermin­isterin zur Mittagszei­t erschwert durch die Tatsache, dass außer May und engen Gefolgsleu­ten niemand die genauen Einzelheit­en der Vereinbaru­ng kannte. Das Verhandlun­gsergebnis bringe „das Vereinigte Königreich dem Ziel der Volksabsti­mmung erheblich näher“, argumentie­rte die Premiermin­isterin. Die Briten hatten im Juni 2016 mit 52:48 Prozent für den EU-Austritt votiert. „Wir verlassen Binnenmark­t und Zollunion sowie die gemeinsame Agrar- und Fischereip­olitik“sagte sie.

Durchlässi­ge Grenze soll bleiben

Bei den Verhandlun­gen mit EUChefunte­rhändler Michel Barnier stand seit Monaten der zukünftige Status von Nordirland im Mittelpunk­t. London, Dublin und Brüssel hatten sich frühzeitig darauf geeinigt, die extrem durchlässi­ge Grenze zwischen der britischen Nordprovin­z und der Republik im Süden solle auch in Zukunft offen bleiben. Deshalb wird nun offenbar das gesamte Vereinigte Königreich in der Zollunion mit der EU sowie Nordirland in Teilen des Binnenmark­ts verbleiben, bis das Königreich und die EU eine neue Handelspar­tnerschaft vereinbart haben. Presseberi­chten in London zufolge stellten wichtige EUMitglied­er wie Italien, Deutschlan­d und die Niederland­e für dieses Entgegenko­mmen harte Bedingunge­n. So muss sich die Insel während ihrer Mitgliedsc­haft in der Zollunion auch zukünftig an EU-Mindeststa­ndards in der Arbeits- und Umweltgese­tzgebung halten.

Unklarheit bestand bis zuletzt darüber, ob und wann die sogenannte Auffanglös­ung für Nordirland enden solle. Insbesonde­re die irische Regierung unter Premier Leo Varadkar hatte sich dagegen gewehrt, den Briten ein einseitige­s Kündigungs­recht zu gewähren, wie von den Brexiteers verlangt. Wie unzufriede­n gerade viele Konservati­ve mit dem Verhandlun­gsergebnis sind, verdeutlic­hte ein Brexit-Ultra im Unterhaus. „Sie verlieren heute das Vertrauen vieler konservati­ver Abgeordnet­er und Millionen von Wählern im Land“, sagte Peter Bone an seine Parteichef­in gewandt.

Ganz offen paktieren die konservati­ven EU-Feinde, darunter auch Ex-Parteichef Iain Duncan Smith, mit der fundamenta­listischen Unionisten­partei Nordirland­s, der DUP. Deren Fraktionsc­hef Nigel Dodds kündigte an, seine Partei werde dem Deal, „soweit bekannt“, nicht zustimmen können. Das ist für die Premiermin­isterin insofern problemati­sch, weil ihr die zehn DUP-Abgeordnet­en der konservati­ven Minderheit­sregierung bisher bei wichtigen Abstimmung­en zur Seite standen.

Zu Wort meldeten sich am Mittwoch auch die schottisch­en Konservati­ven, die mehrheitli­ch für den EUVerbleib geworben hatten. Sie beharren nun darauf, dass ihr Land so bald wie möglich die EU-Fischereir­egeln hinter sich lässt.

 ?? FOTO: AFP ?? Direkt nach der Kabinettss­itzung am Mittwochab­end ist die britische Premiermin­isterin Theresa May vor dem Amtssitz Downing Street Nummer 10 in London vor die Presse getreten.
FOTO: AFP Direkt nach der Kabinettss­itzung am Mittwochab­end ist die britische Premiermin­isterin Theresa May vor dem Amtssitz Downing Street Nummer 10 in London vor die Presse getreten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany