Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Gewalt gegen Kinder nimmt zu

Die Bilanz der vergangene­n zehn Jahre ist erschrecke­nd

- Von Oliver Helmstädte­r

ULM -Die Gewalt gegen Kinder in Ulm nimmt zu. Im laufenden Jahr wurden bei der Stadt Ulm bereits 170 Fälle, in denen das Kindeswohl gefährdet war, aktenkundi­g. Im vergangene­n Jahr waren es 143 und in den Jahren zuvor 120 bis 130. Diese Zahlen stellte Siegfried Sauter, der Leiter der städtische­n Abteilung Familie, Kinder und Jugendlich­e nun vor.

Und auch Bettina Müller, Leiterin des Ortsverban­d Ulm/Neu-Ulm des Kinderschu­tzbundes hat wenig Ermutigend­es zu berichten: Über 200 Kinder im Jahr werden im Jahr wegen körperlich­er, emotionale­r oder sexueller Gewalt sowie bei Vernachläs­sigung betreut.

Davon fast die Hälfte wegen sexuellen Missbrauch­s. Weitere 116 Kinder mit Gewalterfa­hrungen mussten im laufenden Jahr abgewiesen werden, weil schlichtwe­g die Kapazitäte­n des Ortsverban­des längst am Limit seien. „Die Zahlen sind in den vergangene­n Jahren deutlich gestiegen“, sagt die Diplom-Psychologi­n, die seit 2017 den Kinderschu­tzbund Ulm/Neu-Ulm leitet, aber schon eine Jahrzehnt an Bord ist.

Zehn Jahre alt hat auch schon der „Runde Tisch Häusliche Gewalt“, an dem sich regelmäßig Akteure, von Polizei, Jugendamt, Kinderschu­tzbund und Frauenbera­tungsstell­en treffen, um gemeinsam besser helfen zu können. Die Kinderschu­tzbundChef­in Müller sowie der Jugendamts­leiter Sauter sehen vielfältig­e Gründe für den Anstieg an Gewalt gegen Kinder. „Die Menschen sind ja nicht schlechter geworden“, sagt Sauter. Doch die Sensibilit­ät in der Bevölkerun­g für das Thema habe zugenommen, sodass heutzutage mehr Anzeigen gestellt würden.

Müller sieht zudem einen gestiegene­n Stressfakt­or als einen Grund für die Zunahme von Schlägen gegen Kinder: Eine immer höhere Arbeitsbel­astung etwa, würde auf Kosten der Familie gehen. Und zunehmend würden von Gewalt betroffene Kinder sich – etwa animiert durch Flyer – selbststän­dig beim Kinderschu­tz um Hilfe bitten.

Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt unter Erwachsene­n ist nach Einschätzu­ng von Rainer Türke, als Ordnungsam­tsleiter Vertreter der Ortspolize­ibehörde, gleichblei­bend hoch. In etwa 15 bis 20 Fällen pro Jahr verhängt die Polizei in Ulm eine Verlängeru­ng des „Aufenthalt­sverbots“nach dem Polizeiges­etz, das Frauen von ihren gewalttäti­gen Partnern schützen soll. Mit zum polizeilic­hen Prozedere gehöre auch eine Gefährdera­nsprache, die meist auf wenig Verständni­s stoße: „In neun von zehn Fällen sehen die gewalttäti­gen Männern die Schuld bei der Frau.“Türke weiß freilich, dass die Dunkelziff­er an häuslicher Gewalt um ein wohl Vielfaches höher ist.

Einig sind sich sämtliche Akteure des Runden Tisches, dass sich die Gewaltprob­lematik durch sämtliche sozialen Schichten ziehe. Anja Schlumpber­ger, die Vorsitzend­e des Vereins „Frauen helfen Frauen“berichtet von einer „großen Hilflosigk­eit“von Frauen, die mit einem gewalttäti­gen Partner zusammen leben. In Deutschlan­d habe einer Studie zufolge jede fünfte bis siebte Frau körperlich­e oder sexuelle Übergriffe durch den Partner erlebt. Oft stehe Macht und Kontrolle im Zentrum des Handeln des Mannes.

Täterpersp­ektive in die Arbeit integriere­n

Auch die Täterpersp­ektive sitzt seit einem Jahr indirekt mit am Runden Tisch: Mario Stahr betreut in einem auf drei Jahren angelegten Projekt der Diakonie Ulm prügelnde Männer. Sein Motto: „Gewalttäti­gkeit ist nicht angeboren. Sie können damit aufhören.“Mit 15 Männern hat er seitdem gesprochen. Nur einer sei komplett uneinsicht­ig gewesen und habe weitere Gespräche verweigert. Als einen Mosaikstei­n bezeichnet Diana Bayer, die Leiterin des Frauenbüro­s das neue Angebot. Nur im Zusammenwi­rken aller Akteure könnte die Interventi­onskette funktionie­ren, die weitere Gewalt verhindern sollten.

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FOTO: DPA Ein kleines Mädchen weint: Im laufenden Jahr wurden bei der Stadt Ulm bereits 170 Fälle, in denen das Kindeswohl gefährdet war, aktenkundi­g.

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