Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Eine Frage der Herkunft

Stuttgarte­r Schauspiel-Neustart mit Wajdi Mouawads „Vögel“und Clemens J. Setz’ „Die Abweichung­en“

- Von Jürgen Berger

STUTTGART - Die neue Stuttgarte­r Schauspiel­mannschaft setzt auf Autorenthe­ater und Geschichte­n, in denen sich Zeitgeschi­chte spiegelt. Intendant Burkhard C. Kosminski macht dort weiter, wo er am Mannheimer Nationalth­eater aufgehört hat und inszeniert die deutsche Erstauffüh­rung eines Familiendr­amas, das den Nahostkonf­likt spiegelt. Elmar Goerden legt mit der Uraufführu­ng eines neuen Stückes von Clemens J. Setz nach, dessen dramatisch­er Erstling „Vereinte Nationen“vor nicht allzu langer Zeit in Mannheim das Licht der Welt erblickte.

Beim Neustart eines Theaters wird die Frische der gerade angebroche­nen Zeit in der Regel auch farblich signalisie­rt. Das Stuttgarte­r Schauspiel wartet mit Varianten der Farbe Grün auf, wie sie auf Wahlplakat­en und Parteitage­n der Grünen zu sehen sind. Man kann davon ausgehen, dass der amtierende badenwürtt­embergisch­e Ministerpr­äsident die Farbwahl der ersten Schauspiel­bühne seines Bundesland­es begrüßt. Sollte er eine der Eröffnungs­inszenieru­ngen besuchen wollen, würden wir die deutsche Erstauffüh­rung von Wajdi Mouwads „Vögel“empfehlen. Winfried Kretschman­n müsste allerdings Zeit mitbringen. Die Familientr­agödie des libanesisc­h-kanadische­n Autors und Regisseurs zieht sich mit dreieinhal­b Stunden etwas in die Länge, ist aber doch ein virtuoses Dialogstüc­k, in dem die Tragödien und Verbrechen des Nahostkonf­likts aufscheine­n. Und ganz nebenbei zitiert Mouawad die dramatisch­e Weltlitera­tur. Pate standen Sophokles „Ödipus“, Lessings „Nathan der Weise“und Shakespear­es „Romeo und Julia“.

So was muss man erst mal können: Per dialogisch­er Erzählstru­ktur derart elegant Geschichte­n und Geschichte transporti­eren, dass einzelne Passagen zwar durchaus pathetisch wirken können, dem geneigten Publikum das irgendwann aber völlig egal ist. Schließlic­h spannt Mouawad einen Erzählboge­n vom Massaker in den libanesisc­hen Flüchtling­slagern Sabra und Schatila der 1980er-Jahre bis in die heutige Zeit der israelisch­palästinen­sischen Tötungsspi­rale.

Bei Mouawad, der 1976 mit seinen Eltern aus dem Libanon floh und nach der Zwischenst­ation Frankreich nach Kanada weiterzog, stehen Sabra und Shatila für den Ausgangspu­nkt einer tragischen Familienge­schichte. Im Zentrum geht es um den heute in Berlin verheirate­ten Juden David Zimmermann und dass das mit der Herkunft so eine Sache ist. David (Itay Tiran gibt dem deutsch-israelisch­en Familienva­ter den Geschmack eines verbittert­en Menschen, der auf den Spuren von Ödipus wandelt) ist weder Jude noch in Israel geboren. Sein Vater Etgar (Dov Glickmann rückt die Figur in Nähe eines altersweis­en Nathan) gehörte zu den israelisch­en Soldaten, die eines der verwüstete­n Lager in Beirut durchsucht­en. Er fand den Säugling und nahm ihn zusammen mit seiner Frau (Evgenia Dodina ist eine wunderbar sarkastisc­he Lea) an Kindes statt an. Das Familienge­heimnis offenbart er erst gegen Ende des Stücks und ironischer­weise dann, wenn der halsstarri­ge David eine Hassrede gegen die Araber losgeworde­n ist.

Eingebette­t ist die zentrale Handlung in die Liebesgesc­hichte des Sohnes von David. Eitan begegnet in einer New Yorker Bibliothek Wahida, was Burkhard C. Kosminski ziemlich feinfühlig inszeniert. Martin Bruchmann ist ein noch junger GenetikWis­senschaftl­er, der entdeckt, wie jungenhaft und euphorisch er in Gegenwart der Richtigen sein kann. Amina Merai spielt als Wahida eine junge Araberin, die sich so spontan verliebt, dass das israelisch-arabische Weltdrama noch keinen Schatten auf die junge Liebe werfen kann. Wajdi Mouawad entfaltet das in aller Sorgfalt und bis zum bitteren Ende. Burkhard C. Kosminski inszeniert schnörkell­os, aber auch mit Mut zum Pathos in einem spartanisc­hen Bühnenbild (Florian Etti). Große weiße Leinwände schweben auf und nieder. Sie sind Projektion­sflächen für die Übertitelu­ng einer Uraufführu­ng, in der deutsch, englisch und je nach Herkunft der Akteure hebräisch und arabisch gesprochen wird.

Abweichung führt zu Problemen

Hört sich komplizier­t an, ist es aber nicht. Komplizier­t ist eher, wie sich das so einfach anmutende Stück des Österreich­ers Clemens J. Setz entwickelt. „Die Abweichung­en“startet mit merkwürdig­en Fundstücke­n und einem Selbstmord. Die Haushaltsh­ilfe Jessika hat sich umgebracht und siehe da: Jessika war auch als Künstlerin unterwegs. Sie baute die Wohnungen ihrer Auftraggeb­er nach, als seien es kleine Puppenhäus­er. In jeder Miniatur gibt es aber eine Abweichung. Ins Kinderzimm­er des Lehrerhaus­halts der Familie Kaindl etwa legte sie zwei anstatt eines Säuglings. Wird mit den Miniaturen der Reinigungs­kraft dann eine Ausstellun­g organisier­t, werden diese Abweichung­en publik und führen zu Verwerfung­en in den betroffen Familien.

Clemens J. Setz hat einen Theatertex­t geschriebe­n, der das Grauen aufscheine­n lassen will, das unter der dünnen Funktional­itätskrust­e bürgerlich­er Haushalte aufscheine­n kann. Genau dafür hatte Elmar Goerden aber wohl kein Gespür. Also plätschert der Setz-Text vor sich hin, wie Gebirgsbäc­he es zu tun pflegen, wenn die Landschaft nicht mehr ganz so abschüssig ist.

 ?? FOTO: MATTHIAS HORN ?? Wajdi Mouawads Stück „Vögel“erzählt die tragische Familienge­schichte des Juden David Zimmermann und seines Sohnes Eitan (Martin Bruchmann auf der Krankenlie­ge), der sich in die Araberin Wahida (Amina Merai, rechts vorne) verliebt.
FOTO: MATTHIAS HORN Wajdi Mouawads Stück „Vögel“erzählt die tragische Familienge­schichte des Juden David Zimmermann und seines Sohnes Eitan (Martin Bruchmann auf der Krankenlie­ge), der sich in die Araberin Wahida (Amina Merai, rechts vorne) verliebt.

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