Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Entlastet Messerstecher-Opfer Angehörige?
Verteidiger beantragt Glaubwürdigkeitsgutachten im Prozess um Mordversuch in Laupheim
Verteidiger beantragt vor Gericht Glaubwürdigkeitsgutachten.
RAVENSBURG/LAUPHEIM - Wie schwierig es für ein Gericht mitunter ist, während eines Verhandlungsmarathons der ganzen Wahrheit auf den Grund zu kommen, wird derzeit beim Ravensburger Landgericht im Prozess um den versuchten Mord an einer jungen Libyerin in Laupheim deutlich. Sie war mutmaßlich von ihrem Ehemann nach islamischem Recht und ihrem Bruder wegen eines Verhältnisses mit einem anderen Mann niedergestochen und lebensgefährlich verletzt worden. Die Rolle ihrer mitangeklagten Eltern bei der Tat ist unklar. Am gestrigen achten Verhandlungstag stellte Norbert Kopfsguter als Verteidiger des Ehemanns den Antrag, die Glaubwürdigkeit der Aussagen des Opfers mittels psychologischem Gutachten prüfen zu lassen. Die zur Tatzeit im Februar dieses Jahres 17-Jährige habe sich in verschiedenen polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungen zum Tathergang widersprüchlich geäußert.
Es ist eine wahrlich absurde Situation: Die junge Frau sitzt als Nebenklägerin neben ihrer Anwältin im Gerichtssaal und tauscht immer wieder lächelnd Blicke und Zeichen mit ihrem auf der Anklagebank sitzenden Bruder aus – jenem Mann, der sie acht Monate zuvor höchstwahrscheinlich zusammen mit seinem Schwager mit Messerstichen und Schlägen aufs Übelste zugerichtet hat. In der Absicht, sie zu töten. „Todesangst“habe sie in diesen Minuten denn auch gehabt, räumte sie in einer Vernehmung ein. Und tatsächlich überlebte sie die brutale Attacke nur mit knapper Not, wie aus Zeugenaussagen von Medizinern deutlich wird.
Widersprüchliche Aussagen
In den Tagen nach der Tat wird sie von der Polizei mehrfach vernommen, wenige Wochen später auch von einer Richterin des Stuttgarter Amtsgerichts und zuletzt im Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit. In den Aussagen schildert die heute 18-Jährige das Verhalten ihrer Eltern während der Tat widersprüchlich. Mal sagt sie, ihre Eltern sollen bei der Tat nicht im Zimmer gewesen sein, bei einer anderen Vernehmung dann doch wieder. Mal behauptet sie, von ihren Eltern beschützt worden zu sein; in einer anderen Aussage spricht sie davon, dass sie hinter dem Vater Schutz gesucht habe, der sie dann aber zu den Tätern geschoben habe. Sie spricht von einem weiteren Messer, das die Mutter aus der Küche geholt und dem Schwiegersohn mit der Aufforderung übergeben habe, die Tötung zu vollenden. Dem Sohn habe sie gesagt, er solle sich „an der Schlampe nicht die Hände schmutzig machen“. Noch vor dem Eintreffen des vom Vater schließlich doch alarmierten Rettungsdienstes habe ihr die Mutter klargemacht, dass sie lediglich ihren Ehemann belasten solle. Als Zeugin vor Gericht entlastet die junge Frau ihre Eltern schließlich so weit, dass das Gericht die beiden aus der Untersuchungshaft entließ. Auch zur Tatbeteiligung ihres Bruders äußert sie sich widersprüchlich.
Grund genug für den Verteidiger, an der Glaubwürdigkeit des Opfers zu zweifeln, zumal die damals noch Jugendliche im Vorfeld der Tat psychische Auffälligkeiten – wie die von Zeugen geschilderten Suizidversuche und Psychiatrie-Aufenthalte – gezeigt habe. Der Verteidiger des Bruders des Opfers schloss sich dem Antrag an. Entgegen trat diesem der Erste Staatsanwalt Florian Steinberg. Er bescheinigte der jungen Frau zwar „deutliche Entlastungstendenzen gegenüber den Eltern“, er sehe aber keine Hinweise auf eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung. Es sei die richterliche Aufgabe, die Aussagen zu bewerten. Die Entscheidung über den Antrag will Richter Böhm an einem der drei Verhandlungstage in der kommenden Woche verkünden.
An deren Ende soll auch ein Urteil fallen. In der Beweisaufnahme hörte sich das Gericht am Mittwoch die von einem Dolmetscher übersetzte Aussage des Geliebten des Opfers an. Auch der 27-Jährige, der die junge Frau im Juni dieses Jahres nach islamischem Recht geheiratet haben will, erweckte durchaus den Eindruck, als wollte er seine jetzigen „Schwiegereltern“und vielleicht auch seinen Schwager schützen. So erinnerte er sich nicht mehr an mehrere verzweifelte Nachrichten, die er in den Stunden vor der Tat einem Bekannten geschickt hatte. Darin bittet er um Hilfe, weil seine Freundin von ihren Eltern, ihrem Ehemann und ihrem Bruder in Laupheim festgehalten werde und in großer Gefahr sei. Über das nach der Tat erhaltene Video – in dem der Bruder über seiner schwer verletzten Schwester genüsslich eine Zigarette raucht und sagt: „Ich schaue dir beim Sterben zu“– wollte er sich vor Gericht nicht äußern. Die gegen ihn gerichteten Beschimpfungen und Morddrohungen der beiden Hauptangeklagten habe er ihnen verziehen.
„Ich wurde viel angelogen“
Nicht mehr Licht ins Dunkel des genauen Tatablaufs brachte auch die Aussage einer Zeugin, die vom Jahr 2014 bis zur Tat die libysche Familie in der Flüchtlingshilfe betreute. Auch aus ihren Schilderungen wurden die wechselhaften Stimmungen des späteren Opfers deutlich. Vom ständigen Streit mit den Eltern, vor allem der Mutter, ist die Rede. Von Provokationen der Tochter, die zweimal Haarnadeln geschluckt habe, um ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, damit sie dort ihren von den Eltern nicht akzeptierten damaligen Schwarm treffen konnte. Die Jugendliche erzählte der Betreuerin schließlich von einer Zwangsheirat, von Schlägen und Vergewaltigungen durch den Ehemann. Die Eltern zeigten ihr dagegen viele Fotos von einem überglücklichen Hochzeitspaar. „Als ich diese Bilder sah, habe ich mich gefragt: Wer lügt mich hier denn an?“, sagte die Zeugin vor Gericht. Heute ist sie sich sicher: „Ich wurde viel angelogen.“
Trotz unzähliger weiterer, teils eskalierender Konflikte, bei denen vor allem die Tochter sie regelmäßig um Hilfe gebeten habe, sei ihr die Familie ans Herz gewachsen. Auch der Sohn, den sie zweimal im Untersuchungsgefängnis besuchte, in dem er wegen angeblicher Beihilfe zu einem geplanten Terroranschlag saß. Als er mangels dringendem Tatverdacht entlassen wurde, habe sie dies gleich mit ihm bei einem Essen in Biberach gefeiert. Sie habe zwar gewusst, dass er mit der Liebschaft seiner verheirateten Schwester nicht einverstanden war und es deswegen schon häufiger Ärger gab. Dass er aber schon tags darauf zu einer solchen Tat fähig sein würde, habe sie niemals geahnt. Die beiden hätten sich im Grunde gemocht, und auch der Ehemann habe freundlich gewirkt und sich liebevoll um das gemeinsame Kind gekümmert. „Ich bin aus allen Wolken gefallen, als ich von der Tat gehört habe“, erzählte die Betreuerin. Tags zuvor sei sie noch bei der Familie gesessen und habe zwar „eine gewisse Spannung“gespürt. Dann habe sie ein Foto von der Familie gemacht, und die Tochter habe sich so an ihren Mann geschmiegt, „dass ich gedacht habe: Es ist alles in Ordnung.“Am Tag danach habe die Tochter sie angerufen und sie gebeten, vorbeizukommen. „Ich konnte nicht. Hätte ich gewusst, dass sie in so großer Gefahr ist, hätte ich sie sofort abgeholt.“