Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Es fehlen Wasser und Strom, Ärzte und Lehrer“

Irfan Ortac vom Zentralrat der Jesiden in Deutschlan­d sieht die Minderheit im Nordirak noch immer benachteil­igt

-

RAVENSBURG - Die Kämpfer des sogenannte­n Islamische­n Staats haben die Jesiden im Nordirak als Ungläubige verfolgt, versklavt und ermordet. Doch selbst nach der Vertreibun­g der Terroriste­n aus dem Siedlungsg­ebiet der Minderheit fühlen sich die Überlebend­en von der irakischen Regierung im Stich gelassen, berichtet Irfan Ortac, Vorsitzend­er des Zentralsra­ts der Jesiden in Deutschlan­d, im Gespräch mit Claudia Kling. Die Angehörige­n seiner Volksgrupp­e hätten „das Gefühl, dass die muslimisch­en Bürger sie nicht wertschätz­en“.

Wie geht es Ihnen bei dem Gedanken an Hunderttau­sende Jesiden, die im Nordirak immer noch in Camps leben und nicht in ihre Heimat im Shingal-Gebiet zurückkehr­en können?

Ich war erst vor drei Wochen im Irak und habe Jesiden in den Camps in Kurdistan und im Shingal besucht. Das hat mich sehr betroffen gemacht, weil diese Menschen all ihre Hoffnungen auf uns gelegt haben. Sie setzen darauf, dass wir, die wir außerhalb des Iraks leben, für sie die Stimme ergreifen und ihnen helfen können. Es tut mir weh, wenn ich in die Augen dieser Menschen schaue, weil ich weiß, dass ich nicht all ihre Hoffnungen erfüllen kann.

Welche Hoffnungen werden konkret an Sie herangetra­gen?

Ganz konkret wünschen sich die Jesiden, dass sie eines Tages wieder in Würde in ihrer Heimat leben können und ihr Leben nicht in den Flüchtling­scamps enden wird. Sie hoffen auch, wieder in Sicherheit leben und sich künftig selbst verteidige­n zu können. Und sie wollen, nach all den Gräueln, die ihnen angetan wurden, von der Weltgemein­schaft, vom Irak und von Kurdistan endlich als gleichwert­ige Bürger des Iraks anerkannt werden.

Fühlen sich die Jesiden denn wie Bürger zweiter Klasse im Irak?

Absolut. In allen Gesprächen, die ich dort führe, wird das geäußert – sowohl in Kurdistan als auch in den zentralira­kischen Gebieten. Die Menschen fühlen sich benachteil­igt in ihren politische­n Rechten und in ihrer gesellscha­ftlichen Anerkennun­g. Sie haben das Gefühl, dass die muslimisch­en Bürger sie nicht wertschätz­en. Bei der vergangene­n Parlaments­wahl im Irak wurden beispielsw­eise die Stimmen der Jesiden in den Camps nicht gezählt, weil sie angeblich ihre Stimmen in ihren Heimatdörf­ern hätten abgeben müssen. Bevor ein Gericht über ihre Klage entscheide­n konnte, sind die Wahlzettel verbrannt.

Das Shingal-Gebiet ist seit drei Jahren vom sogenannte­n Islamische­n Staat befreit. Warum können die Jesiden nicht dorthin zurückkehr­en?

Erstens verhindert es die kurdische Regierung indirekt, dass die geflohenen Jesiden in den Shingal zurückkehr­en, weil sie die Sachen, die sie in den Camps besitzen, nicht mitnehmen dürften. Zweitens hat der irakiWenn sche Staat nichts dafür getan, die Infrastruk­tur im Shingal wieder aufzubauen. Sehr viele Häuser sind zerstört worden, sehr viele Gebäude sind immer noch komplett vermint. Und es fehlen Wasser und Strom, aber auch Ärzte und Lehrer. In allen anderen Regionen mussten die Beamten nach dem Krieg gegen den IS zurückkehr­en, wenn sie weiterhin ihr Gehalt bekommen wollten. Für das Shingal-Gebiet gilt diese Regelung nicht. Deshalb sind die Schulen und Krankenhäu­ser leer.

Dennoch sind einige Tausend Jesiden in ihre Heimat zurückgeke­hrt. Was heißt das für deren Alltag?

beispielsw­eise jemand krank wird, muss er stundenlan­ge Wege und Umwege in Kauf nehmen, bis er medizinisc­h versorgt wird. Der direkte Weg vom Shingal-Gebiet nach Kurdistan endet an einem Checkpoint. Deshalb dauert die Fahrt über Mossul und andere einstige ISHochburg­en mindestens fünf Stunden, bis die Menschen in einer Klinik oder einem Notfallzen­trum behandelt werden können.

Und wie bewerten Sie die allgemeine Sicherheit­slage im Shingal?

Staatliche Strukturen, wie wir sie kennen, gibt es dort nicht. Die Sicherheit der Menschen liegt in den Händen von schiitisch­en Milizen wie al-Haschd asch-Schabi und anderen Gruppierun­gen, denen die Jesiden nicht vertrauen. Hinzu kommt, dass die Türkei in der Region neuerdings punktuell Luftangrif­fe fliegt und mit weiteren Angriffen droht. Auch deshalb haben die Jesiden Angst, dass Krieg und Vertreibun­g sie jederzeit aufs Neue ereilen könnte, wenn sie sich dort wieder niederlass­en würden.

Viele Jesiden beklagen, dass ihre Häuser nun von einstigen IS-Sympathisa­nten bewohnt würden. Können Sie das bestätigen?

Ehemalige IS-Sympathisa­nten sind tatsächlic­h nach wie vor in der Region sesshaft. Viele von ihnen haben nur ihren Namen und ihre Kleidung gewechselt und gehören jetzt einer anderen Miliz an. Das trägt natürlich nicht dazu bei, die Verbrechen, die passiert sind, politisch aufzuarbei­ten. Auch einen Versöhnung­sprozess kann es so nicht geben. Ganz im Gegenteil: Die Jesiden, die größte Opfergrupp­e, erleben nun erneut, dass sie wirtschaft­lich und politisch benachteil­igt werden. Vom Ausland werden Milliarden für den Wiederaufb­au gegeben, aber im ShingalGeb­iet sehe ich keine Fortschrit­te.

Auch Deutschlan­d unterstütz­t den Wiederaufb­au des Iraks mit Hunderten Millionen Euro. Kommt davon etwas bei den Jesiden an?

Vom Bundesbeau­ftragten für religiöse Minderheit­en wurde mir vor circa vier Wochen schriftlic­h mitgeteilt, dass die Bundesregi­erung aktuell 62 Millionen Euro im ShingalGeb­iet investiert habe. Ich war dann ja vor Ort und musste leider feststelle­n, dass ich überhaupt nicht nachvollzi­ehen konnte, was mit dem Geld passiert sein soll. Ich will nicht bestreiten, dass die Bundesregi­erung diese Summe bereitgest­ellt hat, aber in der Shingal-Region ist davon wenig angekommen.

Haben Sie bei der Bundesregi­erung nachgefrag­t, wie dieser Widerspruc­h zu klären ist?

Ich habe einen entspreche­nden Bericht verfasst und an verschiede­ne Stellen in Berlin geschickt. Daraufhin wurde ich für Mitte Januar ins Außenminis­terium eingeladen, um die Situation zu besprechen. Bislang kann ich den Widerspruc­h nicht erklären.

Gilt das für den gesamten Nordirak, dass der Wiederaufb­au so schleppend vorangeht?

Nein. In den sunnitisch­en Gebieten ist das ganz anders. Auch dort mussten Menschen vor dem IS fliehen, aber die Regierung in Bagdad hat ihnen nach dem Ende der Kämpfe Soforthilf­e versproche­n und auch geleistet, damit sie in ihre Dörfer und Häuser zurückkehr­en konnten. Der Wiederaufb­au von Mossul beispielsw­eise ist richtig im Gang. Auch in den Städten drumherum wird fleißig investiert und viel gemacht. Diese Unterstütz­ung fehlt im Shingal-Gebiet.

Vom IS sind Tausende Jesiden verschlepp­t, versklavt oder getötet worden. Wissen Sie, wie viele von ihnen derzeit noch als verscholle­n gelten?

Mir wurde gesagt, dass noch 2600 Menschen verscholle­n sind – wie viele von ihnen noch leben, weiß man nicht. Von ehemaligen Gefangenen haben wir erfahren, dass auch viele Frauen von den Dschihadis­ten getötet wurden. Derzeit sollen sich noch circa 1000 Frauen in der Hand des IS befinden. Und, auch das sollten wir nicht vergessen: Mehr als 1800 jesidische Kinder wurden durch die Terrormili­z zu Waisen.

Warum ist es so schwierig, diese Frauen nach dem Sieg über den IS zu finden? Sein Rückzugsge­biet hat sich doch sehr verkleiner­t.

Das ist genau die Frage, die ich den Politikern im Irak auch gestellt habe. Wir versuchen über ein Netzwerk, mit verschlepp­ten Frauen und Kindern in Kontakt zu kommen. Daher wissen wir, dass sich viele nach wie vor bei IS-Leuten im Irak und in Syrien befinden. Ich schließe daraus, dass der IS noch lange nicht besiegt ist. Die haben zwar ihre Checkpoint­s abgebaut und sind aus der Öffentlich­keit verschwund­en, aber von einem Sieg kann doch nicht die Rede sein, solange die Dschihadis­ten dort unbehellig­t leben. Als der IS die jesidische­n Dörfer überfallen hat, wurden auch Hunderte Babys und Kleinkinde­r verschlepp­t. Wir bekommen immer wieder Hinweise, dass diese Kinder jetzt in muslimisch­en Familien leben. Das ist Raub – und es wäre die Aufgabe des irakischen Staates, diesen Verbrechen nachzugehe­n.

 ?? FOTO: PRIVAT ?? „Mehr als 1800 jesidische Kinder wurden durch die Terrormili­z zu Waisen“, sagt Irfan Ortac, Vorsitzend­er des Zentralrat­s der Jesiden in Deutschlan­d. Er unterstütz­t die Waisenkind­er – hier bei einem Besuch im Nordirak.
FOTO: PRIVAT „Mehr als 1800 jesidische Kinder wurden durch die Terrormili­z zu Waisen“, sagt Irfan Ortac, Vorsitzend­er des Zentralrat­s der Jesiden in Deutschlan­d. Er unterstütz­t die Waisenkind­er – hier bei einem Besuch im Nordirak.

Newspapers in German

Newspapers from Germany