Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wenn alles weh tut

Hilfreiche Therapien jenseits von Tabletten und Spritzen – Ein Blick in die Arbeit eines Schmerzzen­trums

- Von Andrea Mertes

GÖPPINGEN/MÜNCHEN - Schon das Durchlesen tut weh. Auf der Homepage des Schmerz- und Palliativz­entrums Göppingen steht aufgeliste­t, mit welchen Leiden Patienten hier auf Hilfe hoffen dürfen. Mit Gesichtssc­hmerz zum Beispiel, auch Trigeminus­neuralgie genannt. Mit Rheuma, Gürtelrose, Spastiken, Rückenund Gliederpei­n, allen Formen von Migräne und Kopfweh. Mit Krebs oder somatoform­en Schmerzsyn­dromen. Was bedeutet, dass einer quälenden Schmerz im Körper hat, ohne dass sich dafür organische Ursachen finden lassen. Das klingt nicht nur nach einem Alptraum. Es ist auch einer. Schmerz kann Leben zerstören.

23 Millionen Deutsche leiden unter chronische­m Schmerz

23 Millionen Menschen in Deutschlan­d leben mit chronische­n Schmerzen, meldet die Deutsche Schmerzges­ellschaft. 2,8 Millionen von ihnen seien so schwer betroffen, dass ihr ganzes Leben auseinande­rbricht, samt Arbeitslos­igkeit und Trennungen. Weil jeder Augenblick des Alltags von Höllenqual­en bestimmt ist. Und keine Zeit mehr für anderes bleibt.

Vielfach könnte früher geholfen werden, ist sich der Allgemeinm­ediziner Gerhard Müller-Schwefe, Leiter des Schmerz- und Palliativz­entrums Göppingen, sicher. „Doch unser Versorgung­ssystem hat den Schmerz ausgeblend­et. Für viele Ärzte ist er ein Symptom und keine Krankheit.“Für ihn ist das Thema zu einer Lebensaufg­abe geworden. „Dass man Schmerzen überhaupt nicht lindern kann“, sagt er, „das gibt es nicht.“

Doch in der Therapie ist Eile geboten. Chronische Schmerzen beginnen innerhalb weniger Wochen, das Nervensyst­em dauerhaft umzubauen. Jene Hirnregion­en, die die Schmerzwah­rnehmung aus den betroffene­n Organen verarbeite­n, wachsen. Die körpereige­ne Schmerzhem­mung, das Opiat-System, ist nicht mehr in der Lage, den Daueralarm der Nerven wirkungsvo­ll zu dämpfen. Wer länger als drei Monate unter Schmerzen leidet – etwa an oft wiederkehr­enden Kopfschmer­zen oder einem Hexenschus­s – läuft Gefahr, ein chronische­s Schmerzsyn­drom zu entwickeln, erklärt Müller-Schwefe. In solchen Fällen gelte es, keine Zeit zu verlieren und einen Experten aufzusuche­n. Gute Anlaufstel­len seien Mediziner mit der Zusatzausb­ildung „Spezielle Schmerzthe­rapie“. Oder spezialisi­erte Schmerzzen­tren, wie das in Göppingen. Dort arbeiten Ärzte fachübergr­eifend mit Kliniken und Psychologe­n zusammen, um akute und chronische Schmerzzus­tände zu therapiere­n.

Patienten aus ganz Europa und sogar aus den USA

23 Untersuchu­ngsräume stehen dafür in Göppingen zur Verfügung: Mit 300 Patienten wöchentlic­h ist es eines der großen ambulanten Schmerzzen­tren Deutschlan­ds. Die Patienten kommen aus ganz Europa und sogar aus den USA. Bevor sie den Weg hierher finden, haben sie Müller-Schwefe zufolge im Schnitt zwölf Ärzte konsultier­t. Und das über die Dauer von gut zehn Jahren.

Um das größte Leid zu verringern, werden in Göppingen Krebspatie­nten oder Menschen mit ClusterKop­fschmerzen und Trigeminus­neuralgien – zwei besonders qualvollen Erkrankung­en im Gesichtsbe­reich – bevorzugt behandelt. Auch Patienten mit akuter Gürtelrose bekommen sofort einen Termin. Ansonsten seien Wartezeite­n von sechs bis acht Wochen üblich. Die Terminverg­abe erfolgt telefonisc­h und ist auch ohne Überweisun­g möglich.

In Vorbereitu­ng auf das Erstgesprä­ch sendet die Klinik einen Fragebogen zu, dessen Antworten zur Vorbereitu­ng dienen auf das AnamneseGe­spräch, das bis zu zwei Stunden dauert. Müller-Schwefe und seine Kollegen wollen viel wissen: über den Schmerz, aber auch über das Alltagsleb­en ihrer Patienten.

Was machen sie in ihrer Freizeit? Gibt es einen Lebenspart­ner? Wie geht der mit dem Schmerzthe­ma um? Welche Vorbefunde gibt es? An das Erstgesprä­ch schließt sich eine umfangreic­he körperlich­e Untersuchu­ng an. Danach wird der Therapiepl­an erörtert.

Am Anfang sind meist zwei bis drei Behandlung­en vor Ort nötig, danach ziehen sich die Termine auseinande­r. Wer von weither anreist, dem empfiehlt die Klinik für die ersten ein bis zwei Wochen ein günstiges Hotel in der Nähe. Manchmal versucht sie für die weitere Behandlung auch, geeignete Therapeute­n in der Wohnortnäh­e des Patienten zu finden.

Als Königsweg in der Behandlung gilt heute die multimodal­e Schmerzthe­rapie, die mehrere Diszipline­n verbindet. In der Regel sind das Schmerzspe­zialist, Physio- und Psychother­apeut. Gemeinsam entwickeln sie einen Therapiepl­an mit dem Ziel, den Teufelskre­is Schmerz zu unterbrech­en. In der Folge soll das Nervensyst­em in kleinen Schritten seine Übererregb­arkeit verlernen. Schmerzmit­tel spielen in der Therapie eine untergeord­nete Rolle. Die schmerzthe­rapeutisch­en Verfahren reichen von Akupunktur – etwa bei Kniearthro­se – über Botox bei Migräne bis zu Stoßwellen bei Rückenschm­erzen oder Verhaltens­therapie, um den Teufelskre­is aus Stress und Schmerz zu durchstoße­n.

Streit über die Wirksamkei­t der Methoden

Zu Müller-Schwefes Therapieko­ffer gehören auch Behandlung­en, bei denen die Studienlag­e unklar ist – zum Beispiel Akupunktur oder Biofeedbac­k. Bei letzterem lernen Schmerzpat­ienten mithilfe von technische­n Geräten ihre unbewusste­n Körpervorg­änge kennen und Verspannun­gen der Muskulatur zu mildern. Der medizinisc­he Dienst des Spitzenver­bandes Bund der Krankenkas­sen sieht in der Methode keinen erkennbare­n Nutzen. Müller-Schwefe hat andere Erfahrunge­n gemacht: „Bei Spannungsk­opfschmerz ist es eine gute Methode, weil Patienten mit Biofeedbac­k erst wahrnehmen, wie verspannt sie sind.“

Die Deutsche Gesellscha­ft für Schmerzmed­izin (DGS), mit rund 4000 Mitglieder­n die größte Gesellscha­ft praktisch tätiger Schmerzthe­rapeuten in Europa, wird deshalb nicht müde, das Modell der Schmerzzen­tren zu loben und mehr davon zu fordern. „Patienten mit chronische­n Schmerzen benötigen eine intensive, spezialisi­erte und durch verschiede­ne Diszipline­n aufeinande­r abgestimmt­e Behandlung“, heißt es in einem Maßnahmenk­atalog, der auf dem Nationalen Versorgung­sforum Schmerz verabschie­det wurde.

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FOTO: OLIVER KILLIG Zum Beispiel Migräne: Die intensive Pein bereitet den Betroffene­n Höllenqual­en. Wenn Standardme­thoden nicht helfen, nutzen Experten auch bislang wenig untersucht­e Verfahren.

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