Schwäbische Zeitung (Laupheim)
So klingt der Wahnsinn
Bei der Oper „Lucia di Lammermoor“kommt eine Glasharmonika zum Einsatz
ULM - Ganz geklärt wurde es nie, weshalb Gaetano Donizetti als Begleitung der 20-minütigen „Wahnsinnsarie“seiner Oper „Lucia di Lammermoor“1835 die eigentlich vorgesehene Glasharmonika kurz vor der Uraufführung durch die Klänge einer Flöte ersetzte. Lag es daran – wie das Gerücht geht – dass der Glasharmonika-Spieler für die Proben nicht bezahlt worden war, oder daran, dass Donizetti eine für dieses zu seiner Zeit beliebte Instrument nahezu unspielbare Partitur geschaffen hatte? Donizettis Gründe sind nicht mehr aufzuklären – doch in seiner Ulmer Inszenierung von „Lucia di Lammermoor“ersetzt Ansgar Haag die Flöte in jener Arie wieder durch eine Glasharmonika. Allerdings handelt es sich dabei um ein Instrument moderner Bauart, im Wert von fast hunderttausend Euro. Spielen wird es Sebastian Reckert, um den zerbrechenden Geist Lucias mit ätherisch-sphärischen Klängen zu untermalen. Die Titelrolle der Oper, die am Donnerstag Premiere hat, wird von Maryna Zubko gesungen.
Reckerts Vater Sascha spezialisierte sich 1986 auf Instrumente auf Glas und rekonstruierte in seiner Werkstatt in Wiesbaden für Museen historische Glasharfen (wie die Glasharmonika auch genannt wird), wie sie der Physiker und US-Präsident Benjamin Franklin 1761 erfunden hatte. Reckert baut seine modernen Glasharmonika-Varianten nicht aus mundgeblasenem Glas, sondern aus Industrieglas, das so weiterverarbeitet wird, dass sie Stimmung präzise den gewünschten Ton erzeugt. 50 Jahre lang etwa, sagt Reckert, bleibt diese Stimmung unverändert.
Es klingt einfach: Industrieglas verändert im Gegensatz zu anderen Instrumenten seine Stimmung nicht durch äußere Einflüsse, wie es andere Instrumente tun. Aber um eine solche Glasharmonika zu spielen und mit feuchten Händen genau jene fragilen Töne zu erzeugen, die eine Sopranistin durch die gespenstische Arie „Il dolce suono“begleiten soll, benötigt es ungemein viel Erfahrung.
Reckert, der eine umfassende musikalische Ausbildung erhalten hatte, entschloss sich 2012, Glasharmonika professionell zu spielen. Er tritt an internationalen und deutschen Opernhäusern auf. Sein Debüt gab der Glasharmonika-Virtuose im Teatro La Fenice in Venedig – mit der Wahnsinnsarie der „Lucia di Lammermoor“, für die in den letzten Jahren der Einsatz dieses Instruments wiederentdeckt wurde, weil die schwebenden, nicht fassbaren Sphärenklänge die Farben des Wahnsinns der Titelfigur weitaus authentischer begleiten können als eine Flöte.
Mit der moderneren Variante der Glasharmonika sei die Arie eher zu spielen als mit den historischen Glasschalen-Instrumenten, wie Franklin sie geschaffen hatte, sagt Reckert. Etwa 30 Kadenz-Möglichkeiten existierten für diese Arie, denn jede Primadonna gebe ihr eine eigene Färbung. „Da passiert manche Überraschung“, weiß Reckert; er sieht es als Teil seiner Arbeit, zu erspüren, was gerade in der Sopranistin vorgeht, wenn sie – wie in der Donizetti-Oper – emotional auf den zu singenden Text reagiert, und die Arie mit ihr gemeinsam „über die Ziellinie zu tragen“, wie er es beschreibt.
Vor 200 Jahren warnten Experten vor der Glasharmonika
Im 18. Jahrhundert scheinen die Glasharfen manch einem Angst gemacht zu haben: Die Schwingungen des Instruments würden das Nervensystem zerrütten, wurde behauptet, und der Bleigehalt der Gläser gehe auf den Spieler über. Reckert erschrecken Erzählungen von wahnsinnig gewordenen Virtuosen nicht. „Mir geht es bislang eigentlich ganz gut, machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigt er lächelnd das Publikum in Ulm, dem er bei der Matinee zu „Lucia di Lammermoor“sein Instrument vorstellte.
Was er dagegen tatsächlich entwickelt hat, ist eine peinlich genaue Achtsamkeit demgegenüber, was er vor Auftritten isst. Fettige Hände würden das Spielen auf dem Glas unmöglich machen, und selbst mit einer trockenen Laugenbrezel hat Reckert schon unangenehme Erfahrungen gemacht: Lauge an den Händen verändert die Schwingungen, die er im Glas erzeugt, und die Töne klingen verändert.