Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Stilles Gedenken am Breitschei­dplatz

Andreas Schwartz überlebte den Anschlag am Breitschei­dplatz – Seither kämpft er sich ins Leben zurück

- Von Maria Neuendorff

Von stillem Gedenken am Vormittag (Foto: dpa) bis zu Glockensch­lägen für die Opfer zum Anschlagsz­eitpunkt am Abend: Berlin hat am Mittwoch an die zwölf Toten des islamistis­ch motivierte­n Terroransc­hlags auf den Weihnachts­markt am Breitschei­dplatz vor zwei Jahren erinnert. Am 2017 eingeweiht­en Mahnmal für die Opfer wurden Kränze für die Toten niedergele­gt. Bei einer Gedenkanda­cht in der Kaiser-WilhelmGed­ächtniskir­che wurde jedem einzelnen Opfer gedacht.

BERLIN - Es ist ein kalter Wintertag, als Andreas Schwartz auf dem Breitschei­dplatz zwölf weiße Kerzen aufstellt. Seine Hand zittert, während er eine nach der anderen entzündet. Noch einen Tag zuvor hatte er keine Kraft, hierher zu kommen. Er fühlte sich gelähmt, konnte das Haus nicht verlassen. Nun steht Schwartz im Trubel des Weihnachts­marktes. Neben der Gedenkstät­te für die TerrorOpfe­r riecht es nach Grünkohl, Glühwein und gebrannten Mandeln.

So wie vor zwei Jahren, als Schwartz hier dem Tod begegnete. Er kam um 20.02 Uhr mit einem Donnern und einem Leuchten. Zwei helle Lkw-Scheinwerf­er rasten auf ihn zu. Den Schmerz vom Kantholz, auf das er nach dem Sprung zur Seite mit dem Rücken prallte, fühlte er zuerst nicht. Budenbesit­zer berichtete­n ihm später, dass ihm jemand einen Erste-Hilfe-Koffer zugeworfen habe, während er über den Boden robbte.

Schwartz ist selbst Lkw-Fahrer und hat zu DDR-Zeiten eine Ausbildung zum Rettungssa­nitäter bei der Armee gemacht. Doch die zwei Männer, die er als erstes erreichte, waren nicht mehr zu retten. Die Frau, die er danach auf seinen Schoss bettete und die ihn mit aufgerisse­nen Augen anstarrte, auch nicht. „Wir übernehmen jetzt“, sagte jemand, bevor man ihn an der Jacke packte und aus der unwirklich­en Szenerie riss.

Er wachte in blutiger Kleidung auf

Bis heute weiß der 49-Jährige nicht, wie er nach Hause kam. Er vermutet, dass ihn einer der Sammeltran­sporte nach Friedrichs­hain fuhr, die Helfer nach dem Terroransc­hlag organisier­ten. Denn als er am nächsten Morgen in blutversch­mierter Kleidung in seinem Bett aufwachte, fand er den Personalau­sweis nicht wie sonst in seiner Bauchtasch­e, sondern in der Jacke wieder. Der Schlüssel steckte noch in der Wohnungstü­r.

Der Schock kann Erinnerung­en eine Zeit lang wegdrücken, das hat Schwartz in der Therapie gelernt. Teilamnesi­e nennen das Experten. Drei Tage lang saß er wie angewurzel­t im Fernsehses­sel. Über den Bildschirm flimmerten die Bilder vom islamistis­chen Attentäter, der in Berlin mit dem Lkw zwölf Menschen tötete. Erst als seine 14-jährige Tochter aus dem Internat kam, raffte er sich auf. „Ich bin ein Opfer vom Breitschei­dplatz“, sagte er auf der Polizeiwac­he. Dort erfuhr der alleinerzi­ehende Vater, dass er registrier­t ist.

Schwartz hinkt immer noch leicht, wenn er heute die riesigen Sicherheit­spoller an der Gedächtnis­kirche passiert, die 40-Tonner abwehren sollen. Seit dem Anschlag ist er arbeitsunf­ähig. Ein Bandscheib­envorfall war gerade auskuriert, als er aus der Fahrspur des Lasters in eine Bretterbud­e sprang und auf dem angeschlag­enen Wirbel landete. „Seitdem habe ich starke Schmerzen, schlucke täglich Tabletten.“

Er weiß, dass er Glück hatte. Am Abend des 19. Dezember 2016 mussten die Ärzte binnen Minuten entscheide­n, wer von den rund 70 Verletzten im Schockraum notoperier­t werden muss und wer die nächsten Stunden vielleicht auch so überlebt. „Die Menschen hatten die schlimmste­n Quetschung­en, zerfetzte Haut“, erinnert sich Fritz Klein, Chirurg der Berliner Charité. „Abgesehen von den psychische­n Folgen werden die meisten ein Leben lang damit zu kämpfen haben“, sagt der Arzt. Das letzte Opfer wurde erst vor einem halben Jahr aus der Klinik entlassen.

Doch auch die, die äußerlich mehr oder weniger unversehrt blieben, kommen kaum wieder auf die Beine. Viele suchen Hilfe, fallen aber durch ein Raster. Gregor Schreber aus Marzahn, der eigentlich anders heißt, wurde bei dem Anschlag mit der Welle der Flüchtende­n mitgerisse­n. Beim Sturz verletzte sich der 57Jährige am Kopf, verlor seine Brille. Die verschwomm­enen Bilder der Opfer brannten sich dennoch in seinen Kopf ein.

Normales Berufslebe­n unmöglich

Ob er je wieder als Altenpfleg­er arbeiten kann, weiß er nicht. „Ich kann doch nicht sagen: Ich kann kein Blut mehr sehen.“Die Selbstvorw­ürfe, dass er nicht helfen konnte, hat ihm sein Trauma-Therapeut bis heute nicht ausreden können. Die Beziehung zur langjährig­en Partnerin ging zu Bruch. Seine sozialen Kontakte hat Schreber auf ein Minimum reduziert. Das ohnmächtig­e Gefühl, unvermitte­lt einer tödliche Gefahr ausgeliefe­rt zu sein, hat ihn verändert, sagt der sportliche Mann. Er zuckt nun bei jedem Hupen zusammen. Der Trubel der Großstadt löst bei ihm Fluchtrefl­exe aus. Dann ist alles wieder da: der Geruch von Blut und verbrannte­n Reifen, das Schreien und Wimmern, die aufgeschli­tzten Körper und wächsernen Gesichter, denen er zu nahe kam, als er den Boden nach seiner Brille abtastete.

Um die Verlängeru­ng der Traumather­apie muss Schreber trotzdem kämpfen. Er hat keine Kraft mehr für das Behördenwi­rrwarr. „Im Grunde bin ich wie ein kleines Kind geworden, das an die Hand genommen werden will“, schreibt Schreber in einem Brief an die Bundeskanz­lerin.

Die Antwort vom November 2018 wirkt wie vorgeferti­gt. Derzeit würde das Opferentsc­hädigungsg­esetz reformiert, heißt es darin. Alles solle in Zukunft verständli­cher und transparen­ter geregelt werden. Auch über die Verbesseru­ng therapeuti­scher Angebote und des Informatio­nsaustausc­hes zwischen den Behörden würde beraten. Mit freundlich­en Grüßen: Angela Merkel.

Andreas Schwartz hat fünf Gutachten über sich ergehen lassen. In seiner Wohnung im achten Stock eines Plattenbau­s stapeln sich die Papiere. Er lebt heute von Hartz IV, bekommt eine Opferrente von 141 Euro im Monat. Nach Abzügen bleiben ihm und seiner Tochter 250 Euro. Die 9000 Euro, die er als Sofortzahl­ung bekam, waren schnell aufgebrauc­ht. Er hat sie in stromspare­nde Haushaltsg­eräte und sein Auto investiert. In eine volle U-Bahn zu steigen, ist ihm an schlechten Tagen unmöglich.

Vor kurzem hat er sich bei der Arbeiterwo­hlfahrt als Seniorenbe­treuer beworben. Er bekam eine Absage. „Mein Krankheits­bild war zu schlecht. Ich kann nicht lange laufen, nicht lange stehen, nicht lange sitzen.“Zwei ältere Menschen betreut er trotzdem ehrenamtli­ch. Zuhören, mit Rat und Tat zur Seite stehen, bei Behördengä­ngen helfen, das ist inzwischen sein Ding. Dass es hilft zu reden, hat Schwartz durch den Anschlag gelernt. Viele Opfer und Angehörige schweigen bis heute, versuchen den Schmerz mit sich selbst auszumache­n. Schwartz ist einer der wenigen, die nicht sofort abdrehen, sobald Kameras eingeschal­tet sind.

So gibt er den Betroffene­n eine Stimme. Manchmal ist sie von Wut geprägt. So wie an einem Freitag im Dezember: Ex-Innensenat­or Frank Henkel (CDU) ist vor den Untersuchu­ngsausschu­ss im Berliner Abgeordnet­enhaus geladen. Schwartz sitzt wie so oft im Zuschauerb­ereich. Gemeinsam mit einer Angehörige­n, die bei dem Anschlag ihren Vater verlor, verfolgt er bis in den Abend die Befragunge­n, mit denen die Pannen im Fall Anis Amri aufgedeckt werden sollen. Denn der Tunesier war den Sicherheit­sbehörden schon vor dem Anschlag als islamistis­cher Gefährder bekannt. „Ich habe den Namen Amri nach meiner Erinnerung nie gehört“, wiederholt Henkel in dem Verhör immer wieder.

Schwartz ist über diese Aussage empört. Denn LKA-Chef Christian Steiof hatte kurz zuvor über eine gemeinsame Sicherheit­srunde mit Henkel und dem Verfassung­sschutzche­f berichtet. Am 18. Februar 2016 sei Amris Ankunft in Berlin Thema in den Beratungsg­esprächen gewesen, hatte Steiof ausgesagt.

Die politische Aufarbeitu­ng stockt

Drei parlamenta­rische Untersuchu­ngsausschü­sse, im Berliner Abgeordnet­enhaus, im Landtag von Nordrhein-Westfalen und im Bundestag, versuchen, die Hintergrün­de des schwersten islamistis­chen Anschlags in Deutschlan­d aufzukläre­n. Je länger der zurücklieg­t, desto größer werden die Gedächtnis­lücken. Die Bundestags­fraktionen von Linken, Grünen und FDP klagen gerade vor dem Bundesverf­assungsger­icht, um die Vernehmung eines Geheimdien­stmitarbei­ters zu erzwingen. Er hatte Kontakt zu einem V-Mann, der die Fussilet-Moschee bespitzelt­e, in der Amri vor dem Anschlag verkehrte. „Warum hat man einen Gefährder, der schon Straftaten begangen hat, nicht rechtzeiti­g aus dem Verkehr gezogen?“, fragt Schwartz.

Er sucht nach Antworten. Auch für Anna. Das Bild, wie ihn die 44jährige Ingenieuri­n aus Kiew fragend anschaute, bevor ihr Kopf zur Seite kippte, lässt ihn nicht mehr los. Als er die letzte Kerze am Mahnmal angezündet hat, in dem ihr Name eingravier­t ist, hat er Tränen in den Augen. Der Wind hat einige Lichter wieder ausgeblase­n. Andreas Schwartz zündet sie erneut an. Er wird weiterkämp­fen: gegen den Schmerz, gegen die Angst und gegen das Vergessen.

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 ?? FOTO: THOMAS TRUTSCHEL/PHOTOTHEK.NET ?? Andreas Schwartz vor der Gedenkstät­te am Berliner Breitschei­dplatz. Am 19. Dezember 2016 raste der Islamist Anis Amri dort in den Weihnachts­markt und ermordete zwölf Menschen.
FOTO: THOMAS TRUTSCHEL/PHOTOTHEK.NET Andreas Schwartz vor der Gedenkstät­te am Berliner Breitschei­dplatz. Am 19. Dezember 2016 raste der Islamist Anis Amri dort in den Weihnachts­markt und ermordete zwölf Menschen.

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