Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Ein neues Leben nach der Schockdiagnose
Jürgen Rehm hat mit 50 Jahren Demenz - In Riedlingen stellt er sich einem neuen Alltag
RIEDLINGEN - Jürgen Rehm ist 51 Jahre alt. Bei Frankfurt hat der studierte BWL’er für eine große Bausparkasse in der Kalkulation gearbeitet. Er stand Mitten im Leben. Doch das war mit einem Schlag vorbei. Diagnose: Demenz im Frühstadium. Und das mit 50. Seither hat sich sein Leben komplett verändert, er muss mit der Situation klar kommen. In Riedlingen stellt er sich dem nun. Selbstständig und doch nicht allein: Er hat einen Platz im integrativen Demenzwohnen gefunden.
Wer Jürgen Rehm begegnet, merkt ihm seine Krankheit zunächst nicht an. In der Demenzpflege ist er zugange. Bewegt sich wie selbstverständlich zwischen den Patienten. Kümmert sich um sie, spricht mit ihnen, gibt ihnen zu essen, hat einen guten Draht. Wie ein Teil des Pflegeteams kümmert er sich um die Menschen. Und das von 8 Uhr morgens bis am Abend.
Das ist freiwillig, sagt der Leiter der Demenzpflege, Michael Wissussek. Denn der inzwischen 51-Jährige wohnt einen Stock höher, über der Demenzpflege. Er könnte Fernsehen, lesen, im Bett liegen bleiben. Doch seit seinem Einzug vor rund fünf Wochen steht er jeden Morgen pünktlich um 8 Uhr da. „Ich helfe, wo ich helfen kann“, sagt Rehm, „ich brauche auch eine Aufgabe.“Er ist ein zusätzlicher Joker im Pflegeteam, von Wissussek wird er auch nur mit dem Spitznamen „Joker“gerufen.
Vor eineinhalb Jahren sah sein Leben noch ganz anders, ganz „normal“aus. Damals lebte der gebürtige Hayinger in Eschborn bei Frankfurt. Täglich ging er ins Büro, um mit Zahlen zu kalkulieren. Doch irgendwann gab es Probleme, er konnte keine EMails mehr bearbeiten oder weiterleiten. Er war verwirrt. Sein Chef hat dies gesehen und ihn zum Arzt geschickt. Er habe gar nicht realisiert, dass etwas schief lief: „Ich bin nicht wirklich darauf gekommen“, sagt Rehm heute.
Auf stur gestellt
Beim Arzt wurden Tests gemacht. Und die seien sehr schlecht ausgefallen, berichtet Rehm selbst. Aber er habe auch nicht richtig mitgearbeitet, stellte auf stur. Doch dann die gravierende Diagnose: Demenz im Frühstadium. Und das mit gerade mal 50 Jahren. „Ich muss mich dem stellen“, sagte er sich. Rehm, der eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen hatte, hat seine Zelte in Frankfurt abgebrochen und ist wieder zurück nach Hayingen zu seiner Familie gezogen. Doch auch das war auf Dauer keine Lösung, denn die Defizite treten immer wieder mal zu Tage. Ganz allein leben geht deshalb auch nicht. Was also hatte er für Perspektiven? Altenheim mit 50? „Das geht gar nicht“, sagt Wissussek.
Nun hatte der „Joker“Glück, denn die Wohnung oberhalb der Demenzpflege wurde gerade frei, als sich Rehm mit Familienmitgliedern bei Wissussek vorstellte. „Das war Zufall“, sagt der. Der Joker kann alleine und eigenständig leben. Und doch: Wenn etwas sein sollte, „wir sind im Hintergrund, aber wir sind da“, sagt Wissussek. Es gibt eine Rufbereitschaft, da ist „sofort einer auf der Matte“. Im Gespräch schweift der Blick von Rehm etwas unruhiger durch den Raum, die Finger verknoten sich, der Fuß wippt häufig. Aber sonst gibt es kaum Anzeichen für Defizite. Dennoch: Die Krankheit ist nicht folgenlos geblieben. Bei komplexeren Themen tut sich de 51-Jährige inzwischen schwer. Die Überforderung, die Verunsicherung nehmen zu, die Orientierung wird weniger. Defizite treten dann und wann zu Tage. Die Defizite können bei bestimmten Aufgabenstellungen auch zum Ärgernis werden, dann wenn zum Beispiel eine Handlung genau im Gegensatz ausgeführt wird. Angehörige empfinden dies oft als bewusste Provokation des Demenzkranken und es kommt zum Streit. In Wahrheit verdrehen Betroffene oft die Anweisung, sollten etwas abladen , laden es aber wieder auf, wie es auch im Fall von „Joker“sein kann.
Fürsorge in Riedlingen
Deshalb versucht Wissussek durch Training und Wiederholungen dem 51-Jährigen Sicherheit zu geben. Er nimmt ihn in Riedlingen mit, lässt ihn Gänge in der Stadt machen, dass er Routine erhält, dass er die Wege kennenlernt. Denn Riedlingen war Rehm wenig vertraut vorher. Nun soll er lernen, sich hier zurecht zu finden. Und sollte dies mal nicht gelingen, setzt Wissussek auf die Fürsorge der Riedlinger. Denn dies funktioniere hier wunderbar: Wenn einer seiner Patienten orientierungslos sei, werde er von den Riedlingern aufgenommen und ihm werde Bescheid gegeben. Erst neulich habe er einen Anruf eines Friseursalons erhalten, von der Polizei gibt es Hilfe oder kürzlich hat ein Bauarbeiter einen Demenzerkrankten vorbeigebracht, der lange an der Baustelle zugeschaut hätte. Die Patienten sind nicht „eingesperrt“, können sich bewegen. Und die „Riedlinger Gemeinschaft“passt auf sie auf. Das geschieht „ohne großes Aufhebens, das ist wirklich modellhaft“, sagt Wissussek.
Auch Rehm fühlt sich im Moment in Riedlingen wohl. Am Wochenende ist er viel bei seiner Familie in Hayingen, seine Kumpels von damals holen in alle zwei Wochen zum Stammtisch. Aber ansonsten hat er seine eigenen vier Wände, in die er sich zurückziehen kann – was er auch tut. 20 Uhr ist etwa „Tagesschau-Zeit“. Das ist fix. Aber tagsüber genießt er es, dass er eine Aufgabe hat, dass er in Gesellschaft ist. Und auch dieser Rückhalt im Pflegeteam tut ihm gut. Der Tonfall ist locker, eher kumpelhaft zwischen Rehm und den anderen im Pflegeteam. Und Pläne hat er auch noch: Denn früher hat er mal Trompete bei der Stadtkapelle in Hayingen gespielt. Da soll wieder aktiviert werden. Und dann wird er gemeinsam mit Wissussek für die Patienten Musik machen. Das hätte doch was.