Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Feinfühliger Berserker
Große Oskar-Kokoschka-Retrospektive im Kunsthaus Zürich bestätigt dessen Ruf als maßgeblichen Künstler
ZÜRICH - Soll man ihn überhaupt noch ausstellen? So fragte man sich im Kunsthaus Zürich lange Zeit. Auch nach der Entscheidung für die Schau war die Skepsis nicht weg. Die großen Ausstellungen 1927, 1947 und 1966 konnten kein Argument für den Maler sein, denn: War seine Kunst nicht allzu zeittypisch? Waren seine Themen noch relevant für die Gegenwart? Ein internationaler Beirat wurde gegründet, und am Ende eine sorgfältige Auswahl an Werken aus dem umfangreichen Oeuvre des enorm produktiven Künstlers getroffen. Diese ist mit ihren gut 100, häufig großformatigen Gemälden und ebenso vielen Arbeiten auf Papier immer noch überbordend.
Christoph Becker, der Direktor des Kunsthauses Zürich, freut sich im Vorwort des Katalogs darüber, dass er das Publikum „an unserem Staunen“teilhaben lassen kann. An dem Staunen über diesen feinfühligen Berserker und seine ebenso „ungestüme, verstörende wie sensible und geradezu verletzliche Kunst“.
Das ist so schön gesagt wie wahr. Wer die Ausstellung, die im Frühjahr ins Wiener Leopold Museum wandert, gesehen hat, wird keine Sekunde zögern, den 1980 hochbetagt verstorbenen Österreicher zu den maßgeblichen Gestalten der Kunst des 20. Jahrhunderts zu zählen. Künstler wie Georg Baselitz und Herbert Brandl berufen sich heute auf ihn.
Der Parcours folgt weitgehend der Chronologie und beginnt mit dem kraftvollen Frühwerk. Natürlich fällt einem sofort Schiele ein, doch im Verhältnis der beiden zueinander darf Kokoschka zeitliche Priorität und Originalität beanspruchen. Schiele, das Riesentalent, so scheint es, hat an dem drei Jahre Älteren Maß genommen – nicht umgekehrt. So zeigen die Zeichnungen beider erstaunliche Ähnlichkeit: in der Wahl des Aktmotivs, in der eckig-kantigen Linienführung oder dem ausdrucksstarken Habitus der Figuren.
Noch an der Schwelle zum Expressionismus entstehen frühe Meisterwerke in Öl: Porträts von Bessie Bruce oder Adolf Loos und die mit tiefer Empathie gemalten, ausdrucksstarken „Spielenden Kinder“. Gemälde wie eine „Ungarische“(1908) oder die „Dolomitenlandschaft“von 1913, das „Stillleben mit Hammel und Hyazinthe“hatte man bis dato nicht gesehen. Früh erwirbt sich Kokoschka, der auch expressionistische Dramen schreibt, den Ruf eines Wiener „Oberwildlings“. Befreundet mit Adolf Loos und Karl Kraus, porträtiert er Arnold Schönberg und Anton von Webern, stürzt sich 1912 in eine konfliktgeladene Beziehung zu der sieben Jahre älteren Alma Mahler. 1915 sucht sich der Kriegsfreiwillige aus der Bindung zu befreien. Nach dem Ersten Weltkrieg wird er Professor in Dresden. Die Nationalsozialisten entfernen hunderte Werke von ihm aus deutschen Museen. Kokoschka emigriert 1934 nach Prag und flüchtet 1938 nach London. Dort malt er so bitterböse und vieldeutige Zeitkommentare wie „Das rote Ei“(1940/ 41), „Loreley“oder „Anschluss – Alice im Wunderland“(beide 1942).
Nach dem Krieg porträtiert er als Prominentenmaler Konrad Adenauer oder Pablo Casals. Zu den Highlights der Schau zählen die beiden gewaltigen Triptychen „Thermopylae“und „Die Prometheus Saga“. So wie Kokoschka darin die zeitgeschichtliche Perspektive im Blick auf den Mythos und die Antike vertieft und weitet, gewinnen weiträumige Stadtansichten wie „Berlin – 13. August 1966“und „London mit den Houses of Parliament“(1967) ein geradezu endzeitliches Flair.