Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Mit den Augen hören

Dirk Blecha ist von Geburt an gehörlos – wie er dennoch Fußballspi­ele leitet

- Von Theresa Gnann

ÖPFINGEN - Die Anfeuerung­srufe der Zuschauer hört Dirk Blecha nicht. Er sieht den Trainer der SG Öpfingen, der am Spielfeldr­and aufgebrach­t Anweisunge­n in Richtung seiner Spielerinn­en schreit. Aber er hört ihn nicht. Blecha hört auch nicht, wie eine Spielerin des FV Weithart schimpft, weil sie im Zweikampf unsanft zur Seite gedrängelt wird. Aber er sieht die Aktion – und gibt Freistoß für den FV Weithart. Sein Pfiff hallt schrill durch die kühle Luft dieses Herbsttage­s. Doch auch das hört Blecha nicht. Der Ehinger ist von Geburt an gehörlos. Und dennoch ist er seit mehr als 15 Jahren als Schiedsric­hter aktiv. Oder vielleicht gerade deshalb. „Das Pfeifen baut mich auf und gibt mir Selbstbewu­sstsein“, sagt er, „ich fordere mich damit selbst heraus.“Und wie funktionie­rt das? Er sei es gewohnt, sich auf seine Augen zu verlassen und habe ein gutes Gespür für Situatione­n. „Man muss es einfach wollen und dabei fair und konsequent bleiben“, sagt er. „Dann geht das.“

„Klar muss sich mein Umfeld ein bisschen anpassen“

Obwohl Blecha taub ist, stumm ist er nicht. Wenn er spricht, formt er mit den Lippen Worte, so, wie er es sich bei seinen Mitmensche­n abgeschaut hat. Dazu stößt er Laute heraus. Da er nicht hören kann, was er sagt, trifft er nicht immer die richtige Betonung. Doch zur Verständig­ung reicht es. Und so sagt er den Spielerinn­en in Öpfingen vor dem Anpfiff, dass sie nicht zu schreien brauchen, wenn sie mit ihm sprechen. Sie sollen ihn einfach nur direkt anschauen. „Dann verstehe ich euch“, sagt er. Denn Blecha hat früh gelernt, von den Lippen zu lesen. „Klar muss sich mein Umfeld ein bisschen anpassen. Aber das klappt eigentlich immer“, sagt Blecha. „Und während des Spiels muss man ja wenig sprechen. Im Fußball gibt es zum Glück für alles Handzeiche­n. Das machen andere Schiedsric­hter ja auch nicht anders.“

Und tatsächlic­h: Obwohl Blecha zu 100 Prozent gehörlos ist, funktionie­rt die Verständig­ung zwischen ihm und den Spielerinn­en an diesem Sonntag gut. Blecha rennt, pfeift und gestikulie­rt genau wie seine hörenden Kollegen. Einen unsauberen Einwurf oder einen zu früh ausgeführt­en Abstoß lässt er auch mal wiederhole­n. Drei gelbe Karten verteilt er insgesamt. Dass Blecha kein Schiedsric­hter wie jeder andere ist, merken selbst aufmerksam­e Zuschauer nur in seltenen Momenten. „Schiri, Wechsel“, schreit SGÖ-Trainer Cemal Güney vom Seitenrand und kreist die Arme zur Auswechslu­ng. Blecha ist auf das Spielgesch­ehen konzentrie­rt. Es dauert ein paar Sekunden, bis er den Trainer sieht. Echte Missverstä­ndnisse gibt es nicht.

Die Liebe zum Sport war es, die Blecha vor 15 Jahren zum Pfeifen brachte. Der gebürtige Neubranden­burger war in seiner Jugend Leichtathl­et. Über zehn Jahre lang nahm er an den DDR-Schulmeist­erschaften teil. „Erfolgreic­h“, sagt er. 2003 sah er bei einem Hallenturn­ier in Ehingen einen Aushang der örtlichen Schiedsric­htergruppe. „Da hat es bei mir Klick gemacht. Ich wollte es einfach versuchen, warum auch nicht?“ Fast 600 Spiele hat der 51-Jährige seither in den Kreisligen A und B, bei der Jugend oder bei den Frauen in der Bezirkslig­a geleitet.

„Der sieht einfach alles“, sagt die Öpfingerin Diana Rath. Schon mehrmals hat Dirk Blecha Spiele ihrer Mannschaft gepfiffen. „Das ist einer der besten, den wir Frauen in diesen Ligen bekommen.“Spiele unter seiner Leitung seien immer auffällig ruhig. „Mit dem diskutiert ja keiner.“

Blecha erkennt in seiner Gehörlosig­keit noch einen Vorteil für die Schiedsric­hterei: „Mir kann es ja nur recht sein, wenn ich nicht mitbekomme, was hinter meinem Rücken gesprochen wird“, sagt er. Dass er mal die Kontrolle über ein Spiel verlieren könnte, darüber macht er sich nach 15 Schiedsric­hterjahren nur noch wenig Sorgen. Ungefähr zehn Rote Karten hat er in seiner Schiedsric­hterkarrie­re bisher gezogen. „Das mache ich aber nur, wenn es wirklich sein muss.“Einmal hat ihm ein Spieler Dirk Blecha nach einer Abseitsent­scheidung den Vogel gezeigt. „Da zieh ich die Rote Karte dann natürlich schon“.

In Öpfingen bleibt alles ruhig. 3:0 steht es am Ende für die Gastgeberi­nnen. „Ich bin ein gefragter Schiedsric­hter in der Region, trotz Handicap“, sagt Blecha, als er vom Platz geht. „Die vielen guten Erfahrunge­n und die positiven Rückmeldun­gen machen mich stark.“Ans Aufhören denke er deshalb noch lange nicht.

Wenn er nicht selbst auf dem Platz steht, fiebert Blecha mit den Profis des VfB Stuttgart mit. Seit Juli ist der VfB sogar sein Heimatvere­in. „Das war eine Herzensang­elegenheit“, sagt er, während er den rotschwarz­en Trainingsa­nzug überzieht. Und wie wird man Schiedsric­hter bei einem Bundesligi­sten? Er habe einfach beim zuständige­n Abteilungs­leiter angefragt; der habe zugesagt. „Damit hat sich ein Traum erfüllt“, sagt Blecha. Wird er auf die aktuelle Leistung der Profis angesproch­en, schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen. „Nächstes Jahr wird es besser. Es gibt überall Höhen und Tiefen“, sagt er und ergänzt dann grinsend: „Die Schiris vom VfB, die sind aber immer gut.“

„Das Pfeifen gibt mir Selbstbewu­sstsein. Ich fordere mich damit selbst heraus.“

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FOTO: GNANN Dirk Blecha kann die Pfeife nicht hören, aber er nutzt sie natürlich wie jeder andere Schiedsric­hter.

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