Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Amokfahrt an Silvester
Autofahrer wollte in Bottrop gezielt „Ausländer töten“
BOTTROP (AFP) - Der Autofahrer, der in der Silvesternacht im Ruhrgebiet absichtlich mehrere Fußgänger angefahren hat, hatte die „klare Absicht, Ausländer zu töten“. Das sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) am Dienstag in Bottrop. Der Fall müsse „sehr ernst genommen werden“, es werde mit Hochdruck ermittelt. Mindestens vier Menschen waren bei der Amokfahrt in der Silvesternacht in Bottrop und Essen verletzt worden, darunter ist eine Frau mit schweren Verletzungen.
Ein Deutscher sei bewusst in vier Gruppen gefahren, die größtenteils aus Ausländern bestanden hätten, so Reul. Das sei durch die Vernehmungen klar geworden. Schon vorher sei deutlich gewesen, dass der Mann psychische Erkrankungen gehabt habe. Bottrops Oberbürgermeister Bernd Tischler (SPD) zeigte sich „entsetzt“. Er hoffe, dass die Verletzten bald genesen würden.
ISTANBUL - Die Festnahme des türkischstämmigen Bundesbürgers Adnan Sütcü wegen angeblich staatsfeindlicher Facebook-Beiträge unterstreicht die zunehmende Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der Türkei. Nach offiziellen Angaben gehen die Behörden im Durchschnitt jeden Tag gegen etwa 50 Verdächtige vor, die ihnen mit Kommentaren in sozialen Medien auffallen: So kamen im abgelaufenen Jahr mehr als 18 000 Verfahren zusammen. Viele Türken sagen deshalb in der Öffentlichkeit lieber nichts mehr.
Der Münchner Sütcü wurde nach Informationen von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR am 27. Dezember in Ankara festgenommen, wo er an der Beisetzung seiner Mutter teilnehmen wollte. Inzwischen ist Sütcü demnach wieder auf freiem Fuß, darf die Türkei vorerst aber nicht verlassen. Die Bundesregierung lässt den Beschuldigten konsularisch betreuen.
In kurdischem Verband aktiv
Auf Facebook soll Sütcü der türkischen Justiz zufolge Propaganda für eine Terrororganisation verbreitet haben, was er laut „Süddeutscher Zeitung“bestreitet. Ob ihm Unterstützung für die kurdische Terrororganisation PKK vorgeworfen wird, war zunächst nicht bekannt. Der 56Jährige ist in München im kurdischen Dachverband Komkar aktiv. Als Mitglied dieses Verbandes war im Juli auch der Hamburger Dennis E. im südtürkischen Iskenderun festgenommen worden; E. muss sich wegen PKK-Propaganda verantworten. Insgesamt sind rund ein halbes Dutzend Bundesbürger wegen politischer Vorwürfe in der Türkei in Haft. Berlin spricht von Willkür der türkischen Behörden.
Die Regierung in Ankara weist dies zurück. Präsident Recep Tayyip Erdogan betonte vor wenigen Tagen, die Türkei sei eines der wenigen Länder, in denen die Demokratie „in ihrer vollen Bedeutung“umgesetzt werde. Erdogans Regierung argumentiert, Terror-Propaganda werde auch in westlichen Ländern geahndet.
Allerdings ziehen regierungstreue Richter und Staatsanwälte die Grenzen der Meinungsfreiheit wesentlich enger als ihre Kollegen in Europa oder den USA. Kritik an Erdogan oder anderen Mitgliedern der türkischen Führung wird häufig als Präsidentenbeleidigung oder Volksverhetzung verfolgt. Laut einer zum Jahreswechsel vorgelegten Statistik des Innenministeriums wurden 2018 gegen 18 376 Betroffene rechtliche Schritte eingeleitet, weil sie per Internet schwere Beleidigungen von Amtsträgern oder aufrührerische sowie gewaltverherrlichende Äußerungen verbreitet haben sollen.
Der Schutz des Staates und seiner Vertreter vor angeblichen Angriffen wiegt für die Justiz weit schwerer als das auch in der Türkei verfassungsrechtlich garantierte Recht auf freie Rede. Fast jeden Tag gibt es neue Beispiele dafür. Ein prominenter Banker muss sich derzeit vor der Justiz verantworten, weil er vor fünf Jahren ein Erdogan-kritisches Video auf Twitter verbreitet hatte.
Kritische Fragen unerwünscht
Mitunter wird die Justiz aktiv, wenn sie von Erdogan dazu aufgefordert wird. Vor Kurzem wurden zwei prominente Schauspieler vorübergehend festgenommen, nachdem sich der Staatspräsident über ihre Kommentare im oppositionsnahen Fernsehsender Halk TV beschwert hatte. Auch gegen den bekannten Fernsehmoderator Fatih Portakal wird ermittelt, weil er Erdogan unangenehm auffiel: Portakal hatte die Frage gestellt, ob in der Türkei noch friedliche Protestdemonstrationen möglich seien. Halk TV sowie Portakals Sender Fox erhielten Strafen von der Medienbehörde Rtük. Der Journalistenverband TGC brandmarkte dies als Angriff auf die Pressefreiheit.
Auch im Parlament in Ankara hat die Justiz angebliche Staatsfeinde ausgemacht. Allein neun Abgeordnete sollen nach Angaben der Staatsanwaltschaft ihre Immunität verlieren, weil sie auf Twitter eine Erdogan-Karikatur verbreitet hatten. Einer der Betroffenen, Ali Mahir Basarir, erklärte, in der Türkei solle ein „Reich der Angst“errichtet werden.
Offenbar denken viele Türken wie Basarir. Ein hunderttausendfach angeklicktes Video, das derzeit in sozialen Medien der Türkei die Runde macht, zeigt die vergeblichen Versuche einer TV-Reporterin, Passanten nach ihrer Meinung zu den Kommunalwahlen im März zu befragen. In einer Szene geht ein Mann schweigend am Mikrofon der Journalistin vorbei, streckt die Arme aus und legt die Handgelenke übereinander – ganz so, als würde er mit Handschellen gefesselt.