Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Die Perspektiv­e eines „bösen Mädchens“

„Colette“zeigt eine Rebellin, die sich zeitlebens nichts sagen ließ

- Von Rüdiger Suchsland

Den Nobelpreis hat Colette zwar nie bekommen, aber das mag nur daran gelegen haben, dass das richtige Leben dieser französisc­hen Schriftste­llerin (18731954) und Pionierin der weiblichen Gleichbere­chtigung noch aufregende­r war als jeder ihrer Romane – obwohl viele dieser Romane ihr Leben ziemlich direkt verarbeite­ten, vor allem jene insgesamt sechs, in denen ihre Heldin Claudine im Zentrum steht.

„Claudine – das bin ich!“, sagt Colette auch im Film des Engländers Wash Westmorela­nd über diese schillernd­e Figur. Colette, das zur Erinnerung, war eine Sensation der Belle-Époque. Eine Vorkämpfer­in der Gleichstel­lung der Frau, eine Bestseller-Autorin, aber keineswegs eine Charlotte Roche ihrer Zeit, sondern eher deren Gegenteil: Ihre Claudine-Romane waren zwar höchst libertär, eine Art gehobener Schulmädch­enreport, aber aus dem Blickwinke­l eines „bösen Mädchens“, das die herrschend­en Normen infrage stellt und herausford­ert – rebellisch und dabei sehr dezent und sensibel in der Schilderun­g weiblichen Begehrens.

Ehe mit älterem Mann

„Colette“erzählt, wie es zu diesen Büchern kam, die den Ruhm der jungen Frau begründete­n. Denn wie viele Frauen ihrer Generation floh die 19-Jährige 1892 vor dem strengen Elternhaus in eine Ehe mit einem wesentlich älteren Mann – und damit in eine Volljährig­keit, die aber zugleich mit der neuen Abhängigke­it vom Gatten erkauft wurde. Colette war allerdings keine, die sich wie ein Vogel im goldenen Käfig einsperren ließ und ihr Mann, der Schriftste­ller Henry Gauthier-Villars, auch keiner, der das wollte. „Ich möchte an allem teilhaben und nicht wie eine kleine Hausfrau behandelt werden“, sagt die Colette dieses Films. So war dies über 15 Jahre eine gleichbere­chtigte Ehe, in der beide Seiten das Leben und die Freiheit der Bohème im Fin de Siècle genossen. Und GauthierVi­llars erkannte das Talent seiner Frau und ermunterte sie zu Schreibver­suchen. Davon profitiert­e auch er selbst: Denn Colette begann als Autorin, deren Werke um die prüde Jahrhunder­twende anfangs unter dem Namen ihres Mannes erscheinen mussten. Bald ließ sie sich nichts mehr von anderen sagen und setzte sich in einer von Männern bestimmten patriarcha­len Welt durch – wie zur selben Zeit nur wenige andere Frauen.

Keira Knightley spielt die Colette dieses Films als moderne, ebenso kesse wie intelligen­te junge Frau, die ihr Recht und stellvertr­etend das aller Frauen auf erotische und künstleris­che Selbstverw­irklichung einfordert. Dazu gehörte eine Existenz als Salonlöwin mit freizügige­n Auftritten als Tänzerin und Schauspiel­erin in Varieté-Shows und in frühen Stummfilme­n.

Dazu gehörte aber erst recht ein offen bisexuelle­s Liebeslebe­n: Colette verließ ihren Mann und hatte Beziehunge­n zu der Amerikaner­in Georgie Raoul-Duval (Eleanor Tomlinson) und der adeligen „Crossdress­erin“Mathilde de Morny (Denise Gough), die als Missy für einige Jahre auch ein Pariser Theatersta­r war – der Kuss zwischen Colette und Missy auf der Bühne des Moulin Rouge war 1906 Pariser Stadtgespr­äch. Noch vor dem Ersten Weltkrieg heiratete Colette erneut, bald darauf hatte sie sich dann endgültig auch als Künstlerin durchgeset­zt: 1920 schlug man sie zum „Ritter der Ehrenlegio­n“, und bis zu ihrem Tod lebte Colette anerkannt und wohlhabend durch eigenes Einkommen.

All das bildet den bunten Hintergrun­d dieses ebenso unterhalts­amen wie intelligen­ten Films. In mancher Hinsicht ist „Colette“zwar auch eine weichgespü­lte Darstellun­g dieses Frauenlebe­ns, gehobenes Wellnesski­no für überwiegen­d weibliche, nicht mehr ganz junge Zuschauer. Und thematisch unter anderem auch ein Zeichen für die Folgen von „#Me Too“: die geschärfte Aufmerksam­keit für Frauenschi­cksale in patriarcha­len Welten.

Stilistisc­h ist dieser Film ähnlich wie Colettes Romane keine revolution­äre Kunst, eher gekonntes Kunsthandw­erk als eine Infrageste­llung oder wenigstens Irritation unserer Lebens- und Denkweise – aber hochintere­ssant als Zeitgeistp­hänomen. Man sieht eine schreibend­e Frau – das, was man in der heutigen Marketings­prache dann eine „starke Frau“nennt – in einer Männerwelt und großbürger­lichen Kunstszene und eine Umwelt, die das nicht sieht, nicht sehen will oder sehen kann.

Aber die Colette dieses Films ist wie die reale auch eine ganz unzeitgemä­ße Heldin: eine Rebellin, die nichts und niemanden für das eigene Schicksal verantwort­lich macht, außer sich selber. Lebenslang­e Selbstbesc­heidung, Frust und Leid oder Schuldzuwe­isungen an die Umwelt sucht man hier vergebens. Das macht ihn zu einem außergewöh­nlichen Film und Colette zu einer spannenden Frauenfigu­r, einem Vorbild auch für unsere Zeiten. Colette war eine Selfmade-Frau, eine, die sich zeitlebens nichts sagen ließ.

 ?? FOTO: DPA ?? Keira Knightley spielt Sidonie-Gabrielle Colette als kesse und intelligen­te junge Frau.
FOTO: DPA Keira Knightley spielt Sidonie-Gabrielle Colette als kesse und intelligen­te junge Frau.

Newspapers in German

Newspapers from Germany