Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Grauen als Groteske

Holocaust-Überlebend­er Edgar Hilsenrath gestorben – Erfolg mit der Satire „Der Nazi & der Friseur“

- Von Nada Weigelt

BERLIN/WITTLICH (dpa) - Als Zwölfjähri­ger musste er vor den Nazis nach Rumänien fliehen, drei Jahre später wurde er in ein Ghetto in die Ukraine deportiert. Der deutsch-jüdische Schriftste­ller Edgar Hilsenrath hat die Grauen der NS-Diktatur nie vergessen, sich aber nicht verbittern lassen.

Einen Tag vor Silvester starb der gebürtige Leipziger mit 92 Jahren in der Eifel an den Folgen einer Lungenentz­ündung. „Er hat bis zum Schluss gekämpft, aber am Ende reichte dann doch die Kraft nicht mehr“, sagte seine Frau Marlene.

Mit der Groteske „Der Nazi & der Friseur“hatte Hilsenrath in den 70er-Jahren internatio­nal den Durchbruch gefeiert. In den USA, Frankreich und Italien wurden seine Bücher schnell Bestseller, weltweit verkauften sich über fünf Millionen Exemplare. Allein „Der Nazi & der Friseur“ist in mehr als zwei Dutzend Ländern erschienen, in China mit einem Vorwort von Literaturn­obelpreist­rägerin Herta Müller.

Schoah aus der Sicht eines Täters

In Deutschlan­d musste der gebürtige Leipziger damals allerdings erst bei 60 Häusern vorstellig werden, ehe er einen Verlag fand. „Die Schoah aus der Sicht eines Täters zu erzählen, war sehr kontrovers“, sagte Hilsenrath in einem Interview zu seinem 85. Geburtstag. „Die Deutschen wollten keine Groteske über den Holocaust, da hatten sie Gewissensb­isse.“Inzwischen gibt es zahlreiche Ausgaben, immer wieder kommt der Roman auch als Stück auf die Bühne.

Erstmals auf sich aufmerksam gemacht hatte der Sohn eines jüdischen Kaufmanns mit seinem Debütroman „Nacht“(1954). Erschütter­nd erzählt er aus seiner Zeit mit der Familie im Ghetto in der Ukraine – ein erbarmungs­loser Bericht über den Überlebens­kampf „Verlorener“in einer Endstation für deportiert­e Juden.

Nach der Befreiung durch die Rote Armee schlug sich der damals 18Jährige zunächst bis Bukarest und schließlic­h nach Israel durch. Doch das Land blieb ihm fremd. Nach einer Zwischenst­ation in Frankreich landete er 1951 schließlic­h in den USA, wo er sich anfangs als Kellner, Bürobote und Nachtporti­er über Wasser hielt.

Erst 1975 entschloss sich der Autor zu einer Rückkehr ins Land der Täter. „In Amerika war ich auf verlorenem Posten mit der deutschen Sprache“, sagte er. Doch bei der deutschen Kritik sorgte die Trauerarbe­it des Zeitzeugen mit ihrer ungewohnte­n Mischung aus nacktem Grauen und schwarzem Humor lange für Unverständ­nis. Angesichts von sechs Millionen ermordeten Juden erschienen seine überwiegen­d im Dialog verfassten Erzählunge­n manchem als Tabubruch.

Zum Erfolg von „Der Nazi & der Friseur“trug 1977 entscheide­nd Heinrich Böll bei, der in einer Besprechun­g für die „Zeit“die verstörend­e Sprache als „düstere und stille Poesie“lobte. In der Slapstick-Satire geht es um einen SS-Mörder, der nach Kriegsende die Identität eines seiner Opfer annimmt. Für sein späteres Werk „Das Märchen vom letzten Gedanken“, das sich mit den Gräueltate­n an den Armeniern in der Türkei auseinande­rsetzt, erhielt Hilsenrath 1989 den Alfred-DöblinPrei­s.

Seine wohl letzte Auszeichnu­ng war 2016 der Hilde-Domin-Preis der Stadt Heidelberg. Sein Lebenswerk verleihe der Erfahrung von Exil „in literarisc­h einzigarti­ger, kühner Weise Ausdruck“, hieß es in der Begründung der Jury. „Der Ort seines Erzählens ist das Lachen, das einem im Halse stecken bleibt – zwischen Zynismus, Trauer und Selbstbeha­uptung.“

Durch Schlaganfä­lle und Diabetes gesundheit­lich angeschlag­en, aber hellwach, lebte Hilsenrath lange in Berlin. Später zog er in die Eifel, wo sich seine zweite Frau Marlene (63) bei den Linken engagiert. Sie war dabei, als er in der Nacht vor Silvester im Krankenhau­s im rheinland-pfälzische­n Wittlich starb.

„Ich gehöre zu den wenigen Juden meiner Generation, die ohne Gram und ohne Hassgefühl­e in Deutschlan­d leben“, hatte er im Geburtstag­sinterview nicht ohne Stolz gesagt. „Das ist wirklich mein Zuhause.“

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FOTO: DPA Edgar Hilsenrath verstarb mit 92 Jahren.

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