Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Abitur zwischen Demos und Diskussionen
Mit erhobener Faust zur Zeugnisvergabe: Absolventen von 1968 erzählen
NEU-ULM - Lessing-Gymnasium, ein kühler Spätnachmittag im Dezember. Im Foyer versammelt sich eine kleine Gruppe älterer Menschen, die mit dem Schulbetrieb erkennbar nichts zu tun hat. Nicht mehr. Im Juli 1968, vor 50 Jahren also, hatte man sie hier mit dem Reifezeugnis ins Leben verabschiedet. Jetzt sind die „68er“für knapp zwei Stunden zurück.
In etwa die Hälfte des damaligen Abi-Jahrganges jedenfalls. Zwei frühere Mitschüler sind tot, einige können an diesem Tag nicht, andere wollen nicht, haben sich schon lange aus dem Klassenverbund verabschiedet. Aus welchen Gründen auch immer. Wobei im offenen Gespräch schnell deutlich wird: Desinteresse, vereinzelt wohl auch Abneigung, wurzeln kaum im zwischenmenschlichen Bereich der Absolventen. Mentale Spuren hinterlassen hat vielmehr die Institution Schule in ihrer damaligen Form und ein Teil ihrer seinerzeitigen Protagonisten, die Leitung nicht ausgenommen.
Ambivalente Erinnerungen, ein Gemisch aus Groll und Dankbarkeit, kommen in der Gruppe bereits bei der Begrüßung hoch, später auch zur Sprache. Martin Bader, promovierter Physiker und seit zwölf Jahren Schulleiter, wirkt auf seine Gäste wie das personifizierte Kontrastprogramm zu seinem seinerzeit amtierenden Vorgänger: Herzlich, offen und offenbar bedingt durch Interesse wie positive Resonanz seitens der Gruppe führt er sie durch das Haus, als werbe er um ihre Wiedereinschreibung.
Hinweise auf aktuelle Unterrichtsformen, Vorteile von offener Ganztagsbetreuung und gebundenen Ganztagsklassen, gehen einher mit der Vorstellung spezieller Räumlichkeiten, die Bader nicht ohne Stolz präsentiert, allem unstrittigen Sanierungsbedarf zum Trotz: Mensa, Bibliotheken, Ruheräume, ComputerArbeitsplätze. Und nicht zu vergessen die von ihm selbst maßgeblich geprägte, weltweit vernetzte und erfolgreiche Robotik-AG.
Die Kommentare der Besucher wiederholen sich: „Nicht mehr wiederzuerkennen.“Mit einer Ausnahme vielleicht: Das bis heute elegante zentrale Treppenhaus. Ein Vielzahl an Fragen beantwortet Bader geduldig, freundlich und kompetent. Naheliegend, dass sich dabei Vergleiche mit der Vergangenheit aufdrängen.
Da war ein Kontakt mit dem Schulleiter selten positiver Natur. Glücklich schon, wer nur mit einer „Befragung“davonkam. Wie eine Schülerin etwa, die sich für den Vortrag eines Brecht-Gedichtes entschieden hatte. Gemeinhin aber war der Chef weit weg, vom Schulbetrieb abgeschirmt. Irgendwann sickerten auch die Gründe dafür durch: Den namhaften Sprachwissenschaftler, im „Dritten Reich“Professor an der Universität Ankara und in den frühen 1950er-Jahren Direktor der renommierten Deutschen Schule in Istanbul, trieben wohl ganz andere Interessen um: Sein Türkisch-Wörterbuch gilt weithin als bestes in deutscher Sprache. War die vergleichsweise bescheidene Aufgabe in Neu-Ulm nach einer zunächst vielversprechend verlaufenen Hochschulkarriere diversen NS-Verstrickungen geschuldet? Auszuschließen ist es nicht.
Geschichtsunterricht endete mit der Weimarer Republik
Wie überhaupt der Lehrkörper seinerzeit nicht nur mit lupenreinen Demokraten besetzt sein konnte. „1959 haben wir angefangen“, erinnert sich eine Schülerin des AbiJahrganges 1968, „die Zeit für eine Aufarbeitung der Vergangenheit war doch viel zu kurz.“Dass für die Schüler die deutsche Geschichte im Unterricht lange mit der Weimarer Republik endete, sei nicht gut gewesen, war sich die Gruppe einig.
Gravierender indes, was den Kindern und Jugendlichen damals nicht bewusst war: „Einige Lehrer waren vom Krieg fraglos traumatisiert.“Die Folgen im Unterricht: Wutanfälle, fliegende Sitzmöbel, Alkoholprobleme. Noch schwieriger die Phase, als der altersbedingte Reifeprozess des Jahrganges mit der politischen Entwicklung im Umfeld einher ging, den 68er-Unruhen eben. Als vielerorts nicht nur die Studenten „aufmuckten“, sondern bald auch die Schüler.
Im Vordergrund: „Bei kontroversen Diskussionen im Unterricht ging es meistens um die Wehrdienstverweigerung“, erinnert sich ein Ehemaliger, „die Protest-Demos samt einigen Sitzblockaden auf Neu-Ulms Straßen richteten sich gegen die Notstandsgesetze.“Alle seien dabei gewesen, erinnert sich einer. Und das im Abiturjahr.
Noch heute zitiert eine Ehemalige den Kommentar einer Lehrerin nach dem Attentat auf Rudi Dutschke: „Jetzt hat er es endlich auf die Titelseite geschafft.“Knapp acht Wochen später begannen die schriftlichen Prüfungen. Die Entwicklungen im Land hätten sie nicht beeinflusst, versichert die Gruppe heute unisono.
Eher schmunzelnd denken die allesamt erfolgreichen Prüflinge an die Abiturfeier und deren Rahmenbedingungen zurück. „Die Schulleitung hatte offenbar Angst, dass wir die Feier platzen lassen und ist sehr nervös gewesen“, erinnert sich ein Zeitzeuge, nennt als Indizien die zensierte Abi-Zeitung und die Vorgaben für die Abschlussrede einer dazu ausgewählten Schülerin.
Abi-Zeugnis wurde nachträglich abgewertet
Aber viel passiert sei nicht, im Gegensatz zu anderen Städten und abgesehen vom Auftritt eines Kameraden, der sein Zeugnis mit erhobener Faust abgeholt habe. Gut bekommen ist ihm das nicht: Das Dokument ist nachträglich abgewertet worden. Heute forscht der Mutige an einer Uni in der Schweiz über einen spätmittelalterlichen Gelehrten aus Basel, nach einigen beruflichen Wendungen in den Jahrzehnten zuvor.
20 junge Leute hatten 1968 ihr Ziel erreicht, knapp ein Viertel derer, die neun Jahre vorher gemeinsam gestartet waren. „Damals stand im Gymnasium die Selektion im Vordergrund“, weiß Schulleiter Martin Bader, „heute erfolgt diese an den Hochschulen.“