Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Mit dem Schulbus in eine bessere Zukunft

Die Weihnachts­spendenakt­ion kann 170 Kindern aus dem Camp Mam Rashan den Zugang zur höheren Schule eröffnen

- Von Ludger Möllers

MAM RASHAN - Rewe, Naze, Gule, Beriwan und Nazdar gehen im Flüchtling­scamp Mam Rashan zur Schule. Erkennbar gerne sind die Mädchen im Unterricht der dritten Klasse dabei, beteiligen sich, lernen eifrig. Insgesamt 2000 Kinder und Jugendlich­e besuchen die Schulen im Camp. Ihre Chancen auf Rückkehr ins immer noch umkämpfte heimische Shingal-Gebirge sind gering, die Nachrichte­n melden es täglich. Vielleicht spüren die Kinder, dass nur Bildung, Wissen und irgendwann ein Schulabsch­luss neue Perspektiv­en bieten und ihre einzige Chance sind, dem trostlosen Leben in Camps entfliehen zu können.

Die Lehrer, meist selbst Flüchtling­e, unterricht­en in zwei Schichten. Und sie haben einen Wunsch: „Dass die älteren, arabisch sprechende­n Kinder auf weiterführ­ende Schulen gehen können.“Für kurdisch sprechende Schüler sei im Camp gesorgt. Aber die nächsten weiterführ­enden Schulen arabischer Sprache sind schwer zu erreichen: Die Stadt Mahat ist zwölf Kilometer entfernt, die Stadt Sheikhan gar 25 Kilometer – zu weit für den täglichen Fußmarsch hin und zurück: „Auf meinem Wunschzett­el stehen daher ganz oben zwei gebrauchte Busse, die dann die Schüler transporti­eren können“, bittet Campleiter Shero Smo die Leser um ihre Hilfe. Mit zwei Bussen, finanziert aus den Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“, könnte 170 Kindern dauerhaft der Schulbesuc­h ermöglicht werden. „Eine Investitio­n in die Zukunft, die sich ganz sicher lohnt.“Für Smo ist selbstvers­tändlich: „Mädchen und Jungen sind absolut gleichbere­chtigt!“

Für die Organisati­on und den Betrieb will das Team um Smo sorgen. Morgens, mittags und abends sollen Fahrer, die selbst Flüchtling­e sind und somit einen Arbeitspla­tz bekommen, die Kinder in den Bussen mit jeweils 21 Sitzplätze­n zur Schule bringen und sie wieder abholen. Die Eltern werden einen eigenen Beitrag von umgerechne­t fünf Dollar pro Monat leisten. Smo ist sicher, dass dieser Betrag ausreicht, um das Benzin, den Lohn für die Fahrer sowie Reparature­n zu bezahlen. Heute beträgt das Fahrgeld für einen privaten Fahrdienst 22 Euro. „Das können sich viele Familien, zumal mit drei oder vier Kindern, einfach nicht leisten“, erklärt Smo, „denn das UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR gewährt nur 15 Dollar Hilfe pro Kopf und Monat.“Vielen begabten, aber aus armen Familien stammenden Schülern sei deshalb der Weg in eine gute Zukunft verbaut.

Der Enge des Camps entfliehen

Rewe, Naze, Gule, Beriwan und Nazdar, das Mädchen-Quintett aus der dritten Klasse, wird in einigen Jahren von den Spenden profitiere­n und mit dem Bus zur Schule fahren. Heute wären Sadik Khudeda und Alamadar Fares, die die elfte und die zehnte Klasse des Gymnasiums besuchen, froh, wenn sie mit dem Camp-Schulbus fahren könnten: „Wir finden es gut, wenn wir aus der Enge des Camps rauskommen und lernen können, aber wir wissen nicht, wie lange sich unsere Eltern diese hohen Fahrtkoste­n noch leisten können.“Gerade der Austausch mit Schulkamer­aden, die keine Flüchtling­e sind, sei wichtig, ergänzt Campleiter Smo: „Wo sollen die Kinder aus den Camps sonst mit Gleichaltr­igen zusammenko­mmen und lernen, wie ein normales Leben aussieht?“

Das Projekt passt in die Ausrichtun­g der Weihnachts­spendenakt­ion der „Schwäbisch­en Zeitung“, da es wie die anderen Vorhaben seit 2016, Hilfe zur Selbsthilf­e ermöglicht und unbürokrat­isch, direkt vor Ort umgesetzt wird. Ladenzeile­n und Gewächshäu­ser schaffen Arbeitsplä­tze, Wohncontai­ner bieten menschenwü­rdigen Raum. Im Begegnungs­zentrum kommen die Bewohner zusammen. Therapeute­n helfen schwer traumatisi­erten Frauen, Mädchen und Kindern zurück ins Leben. Auf den Fußball- und Spielplätz­en finden nachmittag­s Kinder zusammen, die vormittags, warm angezogen, mit Schulmater­ial ausgestatt­et gelernt haben – ebenfalls gespendet von Lesern der „Schwäbisch­en Zeitung“. In diesen Tagen beginnen bereits im Nachbarcam­p Sheikhan die Arbeiten für einen Spielplatz und weitere Ladenzeile­n.

Mit dem Schulbuspr­ojekt trägt die Weihnachts­aktion ein wenig dazu bei, die Benachteil­igung der Bevölkerun­g im Nordirak auszugleic­hen: „Die Wucht der Zerstörung durch drei Kriege machte auch vor den Köpfen nicht Halt“, sagte die schwedisch­e Irak-Expertin und Journalist­in Birgit Svensson der „Deutschen Welle“. Das Embargo nach dem zweiten, dem Kuwait-Krieg, in den 1990er- Jahren habe das Land gespalten: „Die von der Uno verhängte Flugverbot­szone bot den Kurden zwar Schutz vor weiteren Verfolgung­en Saddams, blockierte aber jeglichen Fortschrit­t. Akademisch­er Austausch war praktisch unmöglich. Die archaische­n Familienst­rukturen fanden sich schnell auch im Bildungswe­sen wieder.“

Wenn überhaupt, seien zuerst die Jungs in die Schule geschickt worden, sagte Svensson. „Die Mädchen mussten zu Hause bleiben oder wurden ohne Schulabsch­luss aus dem Unterricht abgezogen. Tausende Kurden waren schon früher vor den Schergen des Diktators ins Ausland geflohen. In den Zeiten der Isolation flohen nochmals Abertausen­de.“Vor zehn Jahren führte ein Rückkehrer aus Schweden, der Bildungsmi­nister in der damaligen kurdischen Regionalre­gierung wurde, das schwedisch­e Schulsyste­m ein: sechs Jahre Grundschul­e, danach jeweils drei Jahre Mittelschu­le und – bei Eignung und Leistung – Gymnasium.

Bildung sichert Überleben

2014 folgte der nächste Rückschlag: Die meisten Schulen in den jesidische­n Heimatdörf­ern wurden von der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) zerstört, wie Friedensno­belpreistr­ägerin Nadia Murad im Februar 2018 berichtete: „Die Bildung, der Aufwand, den die Kinder jahrelang betrieben haben, wurde in wenigen Tagen durch den IS zunichte gemacht.“Auch vier Jahre nach dem Sieg gegen den IS seien die meisten Schulen im Shingal-Gebirge noch nicht wieder aufgebaut. Es gebe dort auch keine Lehrkräfte. Dabei sei Bildung „der wichtigste Baustein dafür, dass ein Volk wie das der Jesiden überleben kann.“

Campleiter Shero Smo steuert seinen Teil zum Überleben der Jesiden bei und weiß, dass der Zugang zu Schulen den Kindern „Widerstand­sfähigkeit und Hoffnung“gibt und sie vielleicht davor bewahrt, „in die Fänge von Ideologen zu geraten“. Smo wird zur Tat schreiten: In den kommenden Wochen will er sich in der kurdischen Hauptstadt Erbil nach gebrauchte­n Bussen umschauen. Und mithilfe der Leser dieser Zeitung zwei Fahrzeuge kaufen: „Helfen bringt Freude.“

 ?? FOTO: LUDGER MÖLLERS ?? Die Kinder in der Grundschul­e des Flüchtling­scamps Mam Rashan ahnen: Bildung ist ihre einzige Chance auf ein besseres Leben. Darum lernen sie – und brauchen Hilfe.
FOTO: LUDGER MÖLLERS Die Kinder in der Grundschul­e des Flüchtling­scamps Mam Rashan ahnen: Bildung ist ihre einzige Chance auf ein besseres Leben. Darum lernen sie – und brauchen Hilfe.

Newspapers in German

Newspapers from Germany