Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Einblicke in das Leben früherer Soldaten
Der Neu-Ulmer Stadtrat Ulrich Seitz übergibt Reservistenbilder aus seiner Sammlung an das Stadtarchiv Ulm
ULM/NEU-ULM - An den Moment, als er sich für die Geschichte Ulms und Neu-Ulms zu interessieren begann, erinnert sich Ulrich Seitz genau: Das Schlüsselerlebnis war eine Altpapiersammlung, bei der er als Mitglied der katholischen Jugend mithalf. Im Altpapier fand sich eine Kiste mit alten Ansichtskarten, auch solche aus Ulm und Neu-Ulm waren dabei. Seitz brachte sie nach Hause und lauschte fasziniert den lebhaften Diskussionen und Erzählungen am Tisch – und erkannte für sich, dass Altes seinen Wert haben muss, wenn es derartige Begeisterung auslösen kann. Seitz wurde zum enthusiastischen Sammler und Spezialisten für Lokalgeschichte; er ist Vorsitzender des Historischen Vereins Neu-Ulm. Einen Teil seiner Sammlung – Reservistenbilder aus der Zeit zwischen 1896 und 1914 – übergibt der 65-jährige Neu-Ulmer Stadtrat (SPD) jetzt dem Ulmer Stadtarchiv.
25 großformatige Reservistenbilder, die einst in den Häusern der Portraitierten im Wohnzimmer über dem Sofa hingen, hat Seitz in 40 Jahren zusammengetragen. Junge Männer aus den königlich-württembergischen und königlich-bayerischen Garnisonstruppen sind darauf zu sehen, die sich in Uniform und mit Waffen schneidig und stolz geben. Mehr als die Hälfte der Bilder hingen früher in Seitz’ Büro in der Ulmer Liegenschaftsverwaltung. Größtenteils sind sie noch originalgerahmt. Nur bei den wenigen Bildern, bei denen der Rahmen zerfiel, wurde er ersetzt. Doch Seitz’ Sammelleidenschaft ist eine Platzfrage – deshalb auch die Übergabe ans Ulmer Stadtarchiv. Denn dessen Depot ist um einiges größer als des des Stadtarchivs in Neu-Ulm. „Es braucht einfach einen Haufen Platz“, so Seitz.
Die Fotografien sind schwarzweiß, manche auch nachkoloriert. Sie zeigen junge Männer, Mitglieder der Garnisonen Ulms und NeuUlms. Auf manchen Fotografien sind sogar die Namen der jungen Männer festgehalten, die mit diesen von professionellen Fotografen aufgenommenen Reservistenbildern dokumentierten, dass sie ihren Wehrdienst für König, Volk und Vaterland geleistet hatten. Der Gefreite Bässler leistete seinen Dienst 1901 bis 1903, Fähnrich Strohmeier ließ sich 1908 am Ende seines Dienstes vom Ulmer Atelier Viktoria in der Hafengasse fotografieren.
Herrschende begeisterten für den Krieg
Wieso sammelt ein Mann, der sich politisch für die Zivilgesellschaft einsetzt, Bilder junger Militärs? Nein, er sei gewiss kein Militarist, nie gewesen, sagt Seitz. Ihm geht es um völlig anderes: Die Bilder, deren erstes beim Räumen des Dachbodens der Großmutter seiner Frau in seine Hände kam, seien Zeugnisse dafür, wie es Herrschenden ohne große Mühe gelingt, Menschen über proklamierte „Werte“für den Krieg zu begeistern. „Diese Werte finden in den Bildern ihren Ausdruck“, erklärt Seitz.
Viel hat der 65-Jährige sich mit der Lebenssituation der jungen Männer vor dem ersten Weltkrieg beschäftigt, wie sie auf diesen Reservistenbildern zu sehen sind: „Es waren oft Bauernsöhne und Söhne von Handwerkern vom Land“, erklärt Seitz. „Für sie war es der erste Ausflug in die Welt. Es war etwas Besonderes, in die Stadt zu kommen und zwischen vielen Leuten zu sein.“
Militär sorgte für den sozialen Aufstieg
Selbstwertgefühl, Identität und die Hoffnung auf Aufstieg verbanden sich für diese jungen Männer mit der Uniform. Für die Söhne ärmerer Bauern war die Verpflegung beim Militär besser als zuhause, und viele trugen zum ersten Mal im Leben Schuhe. „Zudem verschaffte die Uniform eine höhere soziale Situation und – vielleicht erstmals im Leben – Respektabilität.“Nach dem geleisteten Wehrdienst galten die jungen Männer – die auch erst 20 Jahre alt sein konnten oder jünger – als Veteranen; die entstehenden Veteranenvereine waren die ersten Vereine, die Männer aus der Unterschicht aufnahmen, weiß Seitz.
Ihn interessiert, wo der Platz dieser jungen Garnisonssoldaten in der Stadtgesellschaft war, sagt Seitz. Seiner Erkenntnis nach war dieser Platz unterschiedlich – abhängig davon, an welchem Donauufer eine Garnison war. In Ulm habe es als Gegengewicht zum überall präsenten Militär eine starke Bürgerschaft gegeben. Neu-Ulm dagegen war von Anfang an Militärstadt und die Verwebung der Garnison in der Stadt deutlich enger. „Es gab kein Fest und keine Fronleichnamsprozession, wo Soldaten nicht dabei gewesen wären.“