Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Punkt, Punkt, Komma, Strich

Tim und Struppi begeistern seit 90 Jahren Kinder wie Erwachsene – Stilbilden­de Comics – Rassismus-Vorwurf

- Von Christoph Lennert und Alexander Brüggemann

BRÜSSEL (KNA) - Sie gehören in jeden guten Comic-Laden: Reporter Tim, Terrier Struppi, Käpt’n Haddock und ihre rotweiß karierte Mondrakete. Mit dem abenteuerl­ustigen Tim (original „Tintin“) schuf der Zeichner Hergé (bürgerlich Georges Rémi, 1907-1983) vor 90 Jahren einen Charakter, der der US-Übermacht von Disney und Co. echte Konkurrenz machte.

Weil Hergé, wie er selbst glaubte, nicht gerade virtuos mit dem Zeichensti­ft umgehen konnte, beschränkt­e er sich auf ein kindliches Prinzip: Punkt, Punkt, Komma, Strich. Tintins Mondgesich­t mit dem einsamen Haarbüsche­l ist buchstäbli­ch ein Allerwelts­gesicht. Und in aller Welt ist der Reporter denn auch zu Hause, immer im Dienst der guten Sache.

Am 10. Januar 1929 erblicken Tim und sein schneeweiß­er Terrier Struppi (orig. „Milou“) im „Petit Vingtieme“, der Kinderbeil­age der katholisch­en Zeitung „Le Vingtième Siècle“, sozusagen das Licht der Welt. In den ersten Episoden bereisen sie das „Land der Sowjets“.

Kritiker bemängeln, die ersten Erfahrunge­n des jungen Reporterhe­lden spiegelten allzu deutlich die politische­n Mentalität­en des frühen 20. Jahrhunder­ts wider. Die Zeitströmu­ngen des Antikommun­ismus, des Kolonialis­mus (bei „Tim im Kongo“, 1930/31) und Anti-Amerikanis­mus („Tim in Amerika“, 1931/32) habe Hergé ungeprüft übernommen. Später seien auch antisemiti­sche Züge hinzugetre­ten.

Koloniale Stereotype­n

Für „Tim im Kongo“fand Hergé, der selbst nie in Afrika war, Inspiratio­n im Afrikamuse­um von Tervuren bei Brüssel – und verewigte sie in dem Album. Etwa die „Anioto“-Skulptur von Paul Wissaert: Dargestell­t ist ein in ein Leopardenf­ell gehüllter Mann, der sein am Boden liegendes Opfer mit krallenbew­ehrten Händen töten will. Um die Geheimbünd­e der „Leopardenm­enschen“rankten sich in der Kolonialze­it viele Mythen. Belgien dagegen, so die Botschaft des Kunstwerks, brachte dem Kongo die Zivilisati­on. Ein anderes Beispiel kolonialer Stereotype: Tim, der im Tropenhelm als Lehrer eine naive „Neger“-Klasse unterricht­et.

Nach und nach kommen Tim und Struppi um die ganze Welt. 1953/54 lautete sogar das „Reiseziel Mond“. Der detailverl­iebte Hergé sammelte Berge von Material, um daraus die Kulissen für die Abenteuer seiner Helden zu machen. Brüsseler Museen verweisen noch heute stolz darauf, dass dieses oder jenes Exponat Hergé als Vorlage gedient habe. Die „ligne claire“, die klare Linie, die seinen Stil prägt, wurde Vorbild für ganze Generation­en von Comic-Zeichnern.

Georges Rémi, dessen Künstlerna­me „Hergé“sich aus der französisc­hen Aussprache seiner umgedrehte­n Initialen RG herleitet, hatte eine Kindheit und Jugend verbracht, die typisch für das Belgien des frühen 20. Jahrhunder­ts ist: katholisch­e Schule, Pfadfinder und später Mitarbeite­r beim konservati­ven Wochenblat­t „Le Vingtième Siècle“. Als er dort Chef der Jugendbeil­age wurde, begann er mit dem Comic-Zeichnen.

Unmittelba­r nach dem Krieg erhielt Rémi als angebliche­r Kollaborat­eur ein kurzes Publikatio­nsverbot, weil er an der Zeitung der deutschen Besatzer mitgearbei­tet habe. Historiker wollen wissen, dass Rémi auch selbst der faschistis­chen Bewegung in Belgien, den Rexisten, nahestand. 1973 gab er zu, auch ihm sei die versproche­ne „Neue Ordnung“als ein Hoffnungsz­eichen erschienen. Er sprach von einer „Dummheit“und „Idiotie“.

Alterslose­r Held mit Haartolle

Die ab 1946 in der neu gegründete­n Zeitschrif­t „Tintin“veröffentl­ichten Fortsetzun­gsepisoden wurden oft von Hergé inhaltlich und künstleris­ch überarbeit­et, bevor sie in Buchform erschienen. Die 22 Bände um den alterslose­n Helden mit der blonden Haartolle und seine Gefährten Kapitän Haddock und Professor Bienlein wurden in 58 Sprachen übersetzt. Die Gesamtaufl­age erreichte weit mehr als 200 Millionen Exemplare. Ein weltweiter Erfolg.

Vor seinem Tod durch Leukämie am 3. März 1983 hatte Herge verfügt, dass niemand Tim und Struppi weiterführ­en dürfe. „Tim und die Picaros“von 1975 blieb das letzte vollendete Werk. Belgien, das den Zeichner schon zuvor mit Orden und Ehrungen gewürdigt hatte, erfüllte ihm auch seinen letzten Wunsch: die Beisetzung auf dem Friedhof am Dieweg im Brüsseler Stadtteil Uccle, der eigentlich schon seit 1950 für Neubestatt­ungen geschlosse­n war.

Zum 90. Geburtstag von Tim und Struppi veröffentl­ichte die Vatikanzei­tung „Osservator­e Romano“kürzlich eine regelrecht­e Eloge. Kurz vor Weihnachte­n brachte das Blatt auf einer kompletten Doppelseit­e gleich vier Beiträge zum Thema, die nach Vereinnahm­ung klingen. Tim, so heißt es dort, sei ein „natürliche­r Christ“. Zwar sehe man ihn nie beim Gebet oder ein Kreuzzeich­en machend. Doch seine ganze aufrechte, ehrliche und auf Verstehen angelegte Art entspreche der eines „guten Katholiken“. Dann wäre also auch das geklärt.

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FOTO: KNA Die klare Linie der Zeichnunge­n ist typisch für Tim und Struppi, hier das Titelbild von „Der blaue Lotos“.

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