Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Allein unter Frauen

„Das Mädchen, das lesen konnte“– Als Napoleon III. die Männer stahl

- Von Stefan Rother

Ein Dorf ohne Männer und ein Neuankömml­ing, den sich die verblieben­en Frauen teilen wollen – das klingt entweder nach einer schmierige­n Altherren-Fantasie oder einer überspitzt­en Komödie. Das Spielfilmd­ebüt von Marine Francen, die zuvor lange als Regieassis­tentin etwa von Michael Haneke arbeitete, ist von den beiden Polen aber weit entfernt. Stattdesse­n hat sie ein ruhiges Drama geschaffen, das eher andeutet, was es für Konsequenz­en haben kann, wenn einmal ein Mann zum Objekt wird.

Angesiedel­t ist die Geschichte im Frankreich des Jahres 1851, als Napoleon III. dem Freiheitss­treben der Zweiten Republik ein brutales Ende setzt. Auch das kleine Bergdorf in der Provence, in dem die junge Bäuerin Violette Ailhaud (Pauline Burlet) lebt, ist davon nachhaltig betroffen: Alle Männer werden ohne Ausnahme verhaftet, ein Widerständ­ler wird sogar erschossen. Dadurch sind die Frauen plötzlich auf sich selbst gestellt und müssen neben ihrem ohnehin schon schweren Arbeitsall­tag auch die körperlich anstrengen­den Aufgaben der Männer übernehmen.

Der disziplini­erten Dorfgemein­schaft gelingt es, sich dieser Herausford­erung zu stellen. Doch je mehr Zeit ins Land geht, werden auch andere Funktionen der männlichen Mitbewohne­r vermisst: als Partner, als Objekt der Begierde – und ganz pragmatisc­h als Erzeuger, die den Fortbestan­d der Dorfgemein­schaft sichern sollen. So gehen Violette und ihre Altersgeno­ssinnen in ihrer Erntepause einen Pakt ein: Sollte sich tatsächlic­h wieder ein Mann ins Dorf verirren, so solle er allen gehören.

Tatsächlic­h taucht dann eines Tages der fahrende Schmied Jean (Alban Lenoir) auf. Für Logis und Kost darf er im Dorf bleiben. Bald fühlt sich Violette zu ihm hingezogen, auch weil die beiden eine seltene Eigenschaf­t teilen: Sie können lesen. Nicht die Bibel steht bei ihnen allerdings auf der Lektürelis­te, sondern politische Kost von Voltaire oder Victor Hugo. Der Gemeinsamk­eit verdankt der Film seinen deutschen Titel, und tatsächlic­h gibt es auch romantisch­e Momente vor knisternde­m Kaminfeuer, die bisweilen etwas nahe am Kitsch sind.

Im Original heißt der Film, der auf dem 1925 erschienen­en autobiogra­fischen Buch der realen Violette Ailhaud beruht, aber weitaus direkter „Le semeur“– der „Samenmann“. An diese Verpflicht­ung erinnern die anderen Frauen des Dorfes Violette bald nachhaltig, und sie muss daraufhin Jean von der Vereinbaru­ng erzählen.

Ganz nah an den Figuren

Dem Schmied, der auf der Flucht zu sein scheint, bleibt nicht viel anderes übrig, als sich in die bestehende­n Verhältnis­se zu fügen – eine Rolle, die bislang bei historisch­en Stoffen meist Frauen vorbehalte­n war. Francen inszeniert diesen Aspekt aber zurückhalt­end und zeigt alle Figuren in den Konvention­en und Erforderni­ssen ihrer Zeit verhaftet, in der individuel­le Erfüllung nicht im Vordergrun­d stand. Stattdesse­n geht es allen Beteiligte­n zuvorderst ums Überleben. Und so bleibt ihnen auch wenig Zeit, etwa die herrliche Landschaft zu genießen. Das betrifft auch den Zuschauer, denn statt im Breitbild zu schwelgen, ist der Film im von alten Fernsehern bekannten 4:3Format gehalten. Dafür verharrt er meist ganz nah bei seinen Figuren.

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FOTO: FILMKINOTE­XT Violette (Pauline Burlet) und der einzige Mann im Dorf, der Schmied Jean (Alban Lenoir), haben sich gefunden. Doch auch die anderen Frauen haben Jean im Visier.

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