Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Der Bettler aus dem Altenheim
Peter Schmidt wohnt im Caritas-Seniorenzentrum - Trotzdem bittet er in der Neuen Mitte um Almosen
ULM - Es ist halb zehn am Vormittag, als Peter Schmidt dampfenden Kaffee in die glänzende Thermoskanne gießt. Die Sonnenstrahlen fallen durch die geöffnete Balkontür und tanzen auf dem Boden seines Zimmers im Caritas-Seniorenzentrum Albertus Magnus in Neu-Ulm. Schmidt, der in Wirklichkeit anders heißt, ist der jüngste Bewohner im Altenheim. Gerade einmal 49 Jahre alt. Im Schnitt sind die Bewohner hier um die 85.
Früher hat Peter Schmidt auf der Straße gelebt. Jetzt wohnt er hier, im Seniorenzentrum. Ein eigenes Zimmer, jeden Tag ein warmes Mittagessen. Doch noch immer fährt der 49Jährige jeden Tag in die Ulmer Innenstadt und hofft auf Almosen. Wer ihn sieht, würde ihn wahrscheinlich älter schätzten. Seine Haare reichen bis zur Schulter, am Oberkopf zeichnen sich lichte Stellen ab, die die Kopfhaut durchscheinen lassen. Der Vollbart umrandet sein Gesicht, über dem Mund trägt er einen Schnurrbart.
An der Wand lehnt eine Beinprothese. Die benutzt er nicht, sie kratzt. Lieber sitzt Schmidt im Rollstuhl. Vor vier Jahren hat man ihm ein Bein abgenommen. „Sie haben gesagt es kommt vom Rauchen, aber das glaube ich nicht“, erklärt er. Frühstücken will er morgens nicht, nur Kaffee und Zigaretten. Eigentlich soll er auf dem Zimmer nicht rauchen, aber „bei offener Balkontür geht’s“, meint Schmidt.
Heute Morgen hat er sich duschen lassen, extra für die Besucherin, der ihn an diesem Tag begleitet. Schmidt nippt an seinem Kaffee, dann beginnt sein gewohnter Tagesablauf. Der überdachte Raucherbereich vor dem Eingang ist der nächste Halt. Die vierte Zigarette glüht. Ab und an läuft ein Heimbewohner an uns vorbei, keiner stellt sich zu ihm. „Manchmal kommt eine Frau hier runter“, sagt der ehemalige Obdachlose, „aber die erzählt auch immer nur das Gleiche.“
Die ersten drei Bier direkt am frühen Morgen
Dann drückt er langsam den Zigarettenstummel im Standaschenbecher aus. Nächstes Ziel: die Tankstelle an der Bushaltestelle. Drei Minuten mit dem Rollstuhl entfernt. Man kennt ihn hier. Es ist immer die erste Station auf seiner Tour. Peter Schmidt steuert zielgenau die Kühltheke an und fischt drei Flaschen Bier aus dem untersten Fach. Den Kunden in der Schlange steht die Verwunderung ins Gesicht geschrieben. Andere Heimbewohner unternehmen um die Uhrzeit einen kleinen Verdauungsspaziergang.
Schmidt biegt um die Ecke, hält vor dem nebenan liegenden Supermarkt an und öffnet das erste Bier – es folgen Nummer zwei und drei. Der Mann im Rollstuhl redet nicht viel. Er ist es gewohnt, alleine zu sein. An den Aktivitäten, die das Altenheim anbietet, nimmt er nicht teil. Er will lieber raus, auf die Straße.
Außerdem ist da noch „der andere“. Auch ein ehemaliger Obdachloser, der im Altenheim wohnt. Seinetwegen fehlen Schmidt ein paar Zähne. Dafür hat er seinem Kontrahenten die Nase gebrochen. Folgen einer Schlägerei im Altenheim. Wie es dazu gekommen ist, will Schmidt nicht verraten: „Ist eben dumm gelaufen“, sagt er.
Langsam schiebt der 49-Jährige seinen Rollstuhl zur Haltestelle. „Ich kann nur mitfahren, wenn der Bus nicht zu voll ist“, sagt er, „sonst ist kein Platz mehr für meinen Rollstuhl und mich.“Der Bus ist fast leer. Als sich die hintere Schiebetüre öffnet, greift Schmidt nach dem integrierten Griff im Boden und klappt die abgenutzte Rampe aus. Hilfe braucht er nicht.
Der Bus hält in der Neuen Mitte. Es ist kurz vor 11 Uhr, die drei Bierflaschen sind leer. Wieder klappt der 49-Jährige die alte Rampe aus. Vor ihm erstreckt sich im Menschengetümmel der Ort, an dem er am liebsten bettelt: das Parkhaus am Rathaus. Die Spitze des Münsters ragt zwischen den Häusern auf der anderen Seite hindurch. In drei Minuten wäre man dort. Ist der Münsterplatz nicht der bessere Ort zum Betteln? „Hier ist es überdacht“, sagt Schmidt. „Die Leute steigen aus dem Bus aus oder kommen vom Parkhaus hoch. Unten gibt es ein behindertengerechtes WC. Direkt neben mir ist ein Mülleimer.“Er schlürft den letzten Schluck Kaffee aus seiner Thermoskanne und klemmt dann den silberfarbenen Becher am unteren Ende seines Rollstuhls fest. Ob die Leute erkennen, dass sie ihr Geld da hineinwerfen sollen? Der frühere Obdachlose hat keinen Zweifel an seiner Methode.
Aggressiv zu betteln ist in Ulm verboten. Wer auf Geld von Passanten hofft, darf sie ansprechen oder ein Schild aufstellen. Doch Bettler dürfen nicht direkt auf Leute zugehen, sie bedrängen, sie anfassen. Peter Schmidt spricht nie jemanden an, er sitzt nur in seinem Rollstuhl und wartet.
Die Zeit verrinnt. Menschen hetzten vorbei, die meisten wenden den erzählt Peter Schmidt aus seinem Alltag.. Blick ab, andere starren dem einbeinigen Rollstuhlfahrer direkt ins Gesicht. Niemand wirft Münzen in seinen Becher. „Jeder Tag ist anders. Man kann nie wissen, ob und wie viel Geld in der Kanne landet“, erzählt Schmidt.
Mittagessen wird jeden Tag kalt
Im Seniorenzentrum wartet ein warmes Mittagsessen auf ihn. „Das Essen heben sie mir auf“, sagt er. „Ich esse das dann immer kalt, wenn ich abends nach Hause komme.“Die Mitarbeiter wissen, dass er jeden Tag unterwegs ist. Außer, wenn der Schnee so hoch liegt, dass er mit seinem Rollstuhl nicht durchkommt.
Warum er damals auf der Straße gelandet ist, will er nicht sagen. Nur so viel: Peter Schmidt hat eine Lehre als Maler- und Lackierer gemacht. „Danach war ich bei einer Möbelspedition, bis ich meinen Führerschein versoffen habe. Ich trinke jetzt auch noch mein Bier, aber nicht mehr so viel wie früher. Außerdem ist es immer von meiner finanziellen Lage abhängig.“Davon also, wie viel Geld im Becher der Thermoskanne landet.
Peter Schmidt ist arm. Ohne das Betteln könnte er sich weder Alkohol noch Zigaretten leisten. Eigentlich braucht er schon lange eine neue Hose, aber das Geld fehlt. Was er verdient, wird sofort in Alkohol und Zigaretten investiert.
Seinen Platz im Seniorenheim bezahlt der Sozialhilfeträger. Sonst wäre er immer noch auf der Straße. Oder im Heim. Auf jeden Fall würde es ihm nicht so gut gehen, wie jetzt. „Ich kann mich nicht beschweren“, meint er. Kann es eine andere Zukunft geben? „Ich würde sehr gerne arbeiten. Aber ich bin nicht derjenige, der sich an einen Tisch setzt und irgendwas zusammenschraubt. Ist nicht so mein Ding“, sagt der 49-Jährige.
Die Straße scheint ihn nicht loszulassen. „Ich sitze nicht gerne vor dem Fernseher oder im Zimmer. Solange ich mich noch bewegen kann, will ich das ausnutzen und rausgehen.“
„Jeder Tag ist anders. Man kann nie wissen, ob und wie viel Geld in der Kanne landet“,
Keine Nächte mehr unter der Brücke
Die Thermoskanne bleibt an diesem Tag leer. Später wird Peter Schmidt wieder über die knarrende, abgenutzte Rampe in den Bus rollen, an der Tankstelle vorbei zurück in das Seniorenzentrum fahren. Er wird in der Küche das Essen holen, das die Pfleger extra für ihn aufgehoben haben. Mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock in sein Zimmer fahren. Auf der Straße ist Schmidt nur noch zu Besuch, die Nächte verbringt er nicht mehr unter der Brücke. Jetzt schläft er in seinem eigenen Bett, in seinem zu Haus.